"Beiträge zur Geschichte der deutschsprachigen Ökonomie" · volume 33
358 pp.
44.80 EUR
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ISBN 978-3-89518-673-8
Personen- und Sachregister
In den eng zusammenhängenden Beiträgen zur Thünenforschung, die in diesem Band teilweise erstmalig, teils in überarbeiteter Form, enthalten sind, kommt der Autor zu dem Urteil, dass Thünen schon das "Werden" von Wirtschaft und Gesellschaft sowohl in sein Denken als Wissenschaftler als auch in sein Handeln als Praktiker einbezogen hat. Von Überlegungen des Philosophen Kant ausgehend ist Thünen dabei einerseits erheblich über Adam Smiths Lehren hinaus gegangen. Andererseits hat er Erkenntnisse John Stuart Mills antizipiert, ohne dabei den Utopien der Frühsozialisten nachzustreben oder sich seinerseits in den ganzheitlichen spekulativen Lehren der idealistischen deutschen Philosophie und insbesondere denen Georg Wilhelm Friedrich Hegels zu verfangen. Thünen ist bereits von 1819 an für Elemente einer Dritten bzw. Mittleren Ordnung der damals in ganz Deutschland noch überwiegend agrarwirtschaftlich und handwerklich bestimmten Produktion, aber gleichwohl bereits marktorientierten Verteilung ihrer Ergebnisse, eingetreten. Er argumentierte zwar stets marktorientiert, dies aber auf der Basis seines spezifischen Kapital-Verständnisses jenseits einer rein kapitalistischen Entwicklung der Erzeugungs- und Verteilungsvorgänge, welche lediglich den tatsächlichen Knappheiten von Arbeit und Kapital in den Angebots- und Nachfragerelationen entsprochen hätte, wie sie die britischen und französischen nationalökonomischen Klassiker vor ihm bejahten. Zugleich aber hat Thünen sich in seinen Lehrsätzen stets entschieden gegen ganzheitliche utopische Vorstellungen und die darauf aufbauenden Ideologien und Dogmen produktivgenossenschaftlicher Art gewandt, wie diese hauptsächlich bei kommunistischen und frühsozialistischen französischen Autoren skizziert oder von diesen romanhaft vertreten worden waren.
Die Beiträge des deutschen Klassikers, die wie diejenigen Mills nicht selten als "sozialistisch" etikettiert worden sind - oder aber als weithin sozialkonservativ -, sind in ihrer grundsätzlichen moralischen und sachlichen Intention nicht sehr weit entfernt von den Vorstellungen über Dritte Ordnungen und Dritte Wege späterer sozialliberaler Autoren, wie etwa denen von Franz Oppenheimer, Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke.
"Johann Heinrich von Thünen (1783-1850) zählt zu den hoch gepriesenen, aber wenig gelesenen Klassikern der Nationalökonomie. Dabei hat Alfred Marshall 1925 geäußert: "I loved von Thünen above all my masters" (zitiert nach Engelhardt S. 135), und auch Paul A. Samuelson hat den deutschen Junker auf einen der ersten Plätze der ewigen Rangliste der Ökonomen gesetzt. In seinem Hauptwerk "Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie", zwischen 1826 und 1863 (zuletzt posthum) in mehreren Teilen erschienen, legte Thünen die Grundlagen zu dem, was wir heute Ceteris paribus-Analyse nennen. Er wies unter anderem nach, dass die reine Bodenrente eine Residualgröße ist, die aus Transportkostenersparnissen besteht: Stadtnaher Boden wird also intensivst bewirtschaftet mit Produkten, die im Verhältnis zu ihrem Wert großes Gewicht haben oder großen Raum einnehmen und deren Transportkosten damit hoch sind. In weiterer Entfernung können dann zunehmend solche Produkte angebaut werden, die im Verhältnis zu ihrem Wert geringere Transportkosten verursachen.
Diese so genannten Thünen'schen Ringe oder Kreise stellen aber nur ein Ergebnis der Arbeit des mathematisch arbeitenden, aber auch sozial engagierten Nationalökonomen dar. Werner W. Engelhardt, einer der profundesten Thünen-Kenner im deutschen Sprachraum, beschäftigt sich seit Jahrzehnten vorrangig mit dem letzteren, gerne vernachlässigten Aspekt. Er stellt Johann Heinrich von Thünen als humane und liebenswürdige Persönlichkeit, als sozial denkenden Praktiker und als von Immanuel Kant beeinflussten philosophischen Kopf ins Zentrum seiner Überlegungen. Engelhardts jüngst erschienene Aufsatzsammlung zu Thünen, ein Werk von stupender Gelehrsamkeit, widmet sich also Thünen, dem Sozialökonom.
Thünen war ein Mann, der Theorie und Praxis exemplarisch miteinander verknüpfte. So weist Engelhardt darauf hin, dass Thünens Verteilungstheorie im zweiten Teil des "Isolierten Staates" mit der berühmten Formel betreffend den "natürlichen Arbeitslohn" auch als normatives Modell des "Naturgemäßen" aufzufassen ist. Der menschenfreundliche Agrarökonom machte ihn übrigens auch zur Basis einer testamentarisch festgelegten Erfolgsbeteiligung seiner Gutsmitarbeiter.
Johann Heinrich von Thünen, der zwar ein Ehrendoktorat erhielt, aber sonst der akademischen Welt seiner Zeit eher reserviert gegenüberstand, verfochte diese Einheit von Theorie und Praxis auch im Bildungswesen. In seinem Brief vom 25.2.1841 an den Rostocker Universitätsprofessor Röper heißt es etwa: "Während in England Wissenschaft und Praxis Hand in Hand gehen, das aber, was keine Anwendung zulässt, auch wenig geachtet wird, und dort nicht bloß der Nationalreichtum, sondern auch die Nationalbildung eine fast beispiellose Höhe erreicht hat, betrachten unsere deutschen Gelehrten das Studium der Wissenschaften nur zu oft als Zweck an sich, ohne sich um die Anwendung derselben zu kümmern. Zwar erkenne ich sehr lebhaft, dass das Studium der Wissenschaften, insofern dadurch Geisteskräfte entwickelt und gestärkt werden, die sonst geschlummert hätten, Zweck an sich ist, aber ich meine, dass dadurch nicht alles erfüllt sei, was die Wissenschaft zu leisten hat" (zitiert bei Engelhardt, S. 79).
Im Mittelpunkt von Engelhardts Ansatz steht die von Amitai Etzioni geäußerte These von der Bedeutung individuellen, aber dem Gemeinwohl verpflichteten Handelns. Johann Heinrich von Thünen war nach der von Engelhardt vertretenen Sicht bereits ein solcher Träger von Vorstellungen. Sein Wirken sei allerdings von der neoklassischen Nationalökonomie, der landwirtschaftlichen Betriebslehre und der an diese Lehren anknüpfenden allgemeinen Betriebswirtschaftslehre lange Zeit einseitig im Sinne der mathematischen Präzisierung gewinnmaximierenden unternehmerischen Verhaltens gewürdigt worden.
Trotz seines sozialethischen Engagements war Thünen übrigens keineswegs ein weltfremder Idealist. Engelhardt zitiert etwa (S. 121f) aus einem Brief des Ökonomen vom 17.7.1843, an seinen jüngsten Sohn Hermann von Thünen:
"1. Die große Mehrzahl der Menschen - und diese macht die Geschichte - strebt nur nach Gewinn, nach Genuss oder Ruhm, setzt sich selbst keine moralischen Schranken, sondern findet die Schranken nur in der Furcht vor der Polizei, der Justiz und dem Zwang, den die Gesetze der Ehre auflegen.
2: Steins Ausspruch: ,Der Irrtum muss tatsächlich geworden sein, um vollständig überwunden zu werden.' Von dieser Ansicht ausgehend, wird die Geschichte so wie das gegenwärtige bürgerliche Leben begreiflich, aber das Göttliche verschwindet daraus, und der Mensch sinkt zum höher begabten Tier herab."
Auch über seine Standesgenossen (Thünen selbst galt allerdings nicht als adelig) machte sich der Ökonom keine Illusionen. Nach Engelhardt (S. 177) erhoffte er eine Besserung der Lage der Landarbeiter vor allem durch ihre Verknappung infolge der damals sehr bedeutenden Auswanderung bei andererseits steigender Nachfrage nach ihren Produkten. Er orientierte sich dabei am Beispiel der USA: "Blicken wir nun auf die Zustände in den nordamerikanischen Freistaaten. Dort ist wie im i. St. (isolierten Staat) fruchtbarer Boden in ungemessener Menge umsonst oder für eine Kleinigkeit zu haben. Dort kann wie im i. St. nur die Entfernung vom Marktplatz der Ausbreitung der Kultur Schranken setzen. Aber diese Schranken werden durch die Dampfschifffahrt auf den Flüssen, durch die Anlegung von Kanälen und Eisenbahnen immer weiter hinausgeschoben. Dort kann also der Arbeitslohn (Wurzel ab) zur Verwirklichung gelangen und ist in der Tat dazu gelangt; denn wir finden in Amerika zwischen Arbeitslohn und Zinsfuß ein ähnliches Verhältnis, wie wir es aus unseren Formeln für fruchtbaren Boden entwickelt haben. Infolge dieses Verhältnisses zwischen Arbeitern und Kapitalisten finden wir in Nordamerika allgemeinen Wohlstand, der mit Riesenschritten wächst; dort findet keine schroffe Absonderung zwischen den verschiedenen Ständen statt, und zwischen ihnen herrscht Eintracht und Friede; und selbst unter der geringern Volksklasse sind die ersten Schulkenntnisse - Lesen, Schreiben und Rechnen - allgemeiner verbreitet als in Europa" (zitiert nach Engelhardt S. 179).
Der nicht mehr als "natürlich" im Sinne der Thünen vorausgehenden britischen Klassiker, sondern eben als "naturgemäß" oder direkt in Sinne Kants als normativ "vernunftgemäß" bezeichnete Lohn entsprang nach Engelhardt (S. 251) also nicht mehr zwingend dem tatsächlichen jeweiligen Knappheitsverhältnis der Größe des Angebots und der Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt. Vielmehr war dieser Arbeitslohn bei Thünen im Sinne einer ordnungstheoretisch und ordnungspolitisch dritten Lösung konzipiert. Dieser Lohn ist als "mittlere Proportionalzahl" zwischen dem Bedürfnis des Arbeiters und seinem Arbeitsprodukt stehend definiert.
Thünen zeigte sich kritisch gegenüber den radikalen Utopien seines Zeitgenossen Charles Fourier: "Diese Einrichtung setzt ein Menschengeschlecht voraus, was nicht vorhanden ist, ein Menschengeschlecht, was ohne den Stachel des eigenen Interesses aus bloßem Pflichtgefühl sich der Mühe und Anstrengung der Arbeit für andere unterzieht. Da es aber ein solches Menschengeschlecht nicht gibt, so wird der Vorschlag zu einer Chimäre, und statt der gehofften Freiheit und Unabhängigkeit würde hier die Knute herrschen müssen, oder der Staat müsste ganze Haufen von Müßiggängern ernähren, was dann gar bald zum Staatsbankerott führen würde" (zitiert nach Engelhardt S. 253).
Letztlich sieht Engelhardt Thünen als Vorläufer der Denker der Sozialen Marktwirtschaft und zieht den Konnex von ihm über Franz Oppenheimer bis Ludwig Erhard. Auch John Stuart Mill, Gustav von Schmoller und Lujo Brentano stellt er in diesen Traditionszusammenhang. Ob man nun Engelhardts Sicht in jedem Punkte teilen mag oder nicht - er bringt uns einen Klassiker nahe, über den sein Mecklenburger Gutsnachbar Karl Rodbertus-Jagetzow schrieb: ,,...von Thünen verband die exakteste Methode mit dem menschenfreundlichsten Herzen - Gaben, die selten vereinigt sind" (Zitat bei Engelhardt S. 135).
"... Es ist weniger bekannt, dass sich Thünen auch Fragen der Wirtschaftsordnungstheorie gestellt hat und hier zu ganz eigenen Antworten gekommen ist. Diese müssen zwar vor dem Hintergrund der Zeit gesehen werden, sie entsprechen aber vielfach nicht den Antworten auf die drängenden Probleme der Frühindustrialisierung, wie sie von der herrschenden klassisch-liberalen Schule oder - völlig gegensätzlich - den sozialistischen Theoretikern gegeben wurden. Hier setzt das Buch von Werner Engelhardt an. Der Autor hat sich seit vielen Jahrzehnten mit dem Werk Thünens beschäftigt und in dem hier vorliegenden Band den Versuch gewagt, ihn in die Ahnenreihe der Theoretiker der Sozialen Marktwirtschaft einzureihen. Dies ist - das sei vorweg gesagt - in vollem Umfang gelungen. Engelhardt ordnet Thünen zunächst philosophisch ein und betont, dass dessen "sittlich-moralisches Credo" zwischen Adam Smith und Immanuel Kant einzuordnen sei. Daraus erwächst eine besondere Sensibilität für problematische soziale und gesellschaftliche Entwicklungen. Hauptansatzpunkt Thünens ist hierbei die gerechte Beteiligung der Arbeiter am Produktionsergebnis, die wiederum entscheidend von der Möglichkeit der Beteiligung am Produktivkapital abhängt. Hier könnten Genossenschaften ein gangbarer Weg sein. Engelhardt sieht Thünen mit dieser These deshalb völlig zutreffend in der Tradition der Väter der Sozialen Marktwirtschaft. Eine weitere Gemeinsamkeit ergibt sich bei der Forderung nach ergänzender staatlicher Sozialpolitik, die auch in einer Gesellschaft mit breit gestreutem Eigentum an den Produktionsmitteln nötig und dem Gemeinwohl geschuldet sei. ...
Einen weiteren interessanten Aspekt führt Engelhardt bei der Behandlung des Kapitalzinses an. Thünen geht hier auf den Unterschied zwischen dem natürlichen Zins und dem (staatlich beeinflussten) Geldzins ein. Er betont, dass eine Niedrigzinspolitik zu einer Entmutigung des Sparens und zu einer Verminderung der Kapitalbildung und des materiellen Wohlstandes führt. Mit diesem Denkansatz nimmt Thünen auch wesentliche Elemente der Konjunkturtheorie der Österreichischen Schule vorweg. Gerade in der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise zeigt sie die Grenzen staatlichen Handelns einer Marktwirtschaft auf und steht zweifelsohne in der Tradition der Sozialen Marktwirtschaft, die diskretionärer Konjunkturpolitik eher reserviert gegenüberstand. ...
Der Leser findet in Engelhardts Buch viele weitere interessante Ansatzpunkte. Insgesamt handelt es sich bei seiner Thünen-Studie um ein sehr lesenswertes Werk, das insbesondere für dogmengeschichtlich Interessierte von großem Nutzen sein dürfte. An jeder Stelle kommt die intensive Beschäftigung des Autors mit der Materie zum Ausdruck. Deutlich wird auch, dass es wohl jahrzehntelanger Studien und umfassender interdisziplinärer Kenntnisse bedurfte, um ein solches Buch überhaupt schreiben zu können. Jüngere Autoren hätten sich da wohl wesentlich schwerer getan.