"Ökologie und Wirtschaftsforschung" · volume 54
382 pp.
28.00 EUR
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ISBN 978-3-89518-469-7
Der Begriff der Nachhaltigkeit ist zum Leitbegriff der internationalen Umweltpolitik geworden. Seine Kernbedeutung liegt aus Sicht der hier vorgelegten Theorie in der langfristigen, ökologisch verträglichen Nutzung kritischer Bestände von Naturkapital. Die Autoren gehen davon aus, dass es möglich ist, eine Nachhaltigkeitstheorie zu entwickeln. Zur Begründung dieser These wird ein Ebenenmodell vorgestellt, das als Grundlage der Theorie angesehen werden kann. Danach werden im Lichte vorliegender Gerechtigkeitstheorien Verpflichtungen gegenüber zukünftigen Generationen begründet, die sich an einem egalitär-komparativen Standard orientieren. In einem zweiten Schritt geht es um eine diskursrationale Wahl zwischen konkurrierenden Konzepten von Nachhaltigkeit. Im Anschluss an eine umfassende Sichtung der einschlägigen Argumente erfolgt ein Gesamturteil zugunsten starker Nachhaltigkeit. Da in der neoklassischen Umweltökonomik und auch in der Ökologischen Ökonomie eine Analyse der Probleme fehlt, die eine Übertragung des Kapitalbegriffs auf die belebte Natur macht, wird ein Vorschlag zum Verständnis von Naturkapital entwickelt. In den politisch-praktischen Kapiteln kann gezeigt werden, dass es eine Reihe von in sich schlüssigen Programmen gibt, wie die Erhaltung von Naturkapital mit Schutz und Nutzung natürlicher Ressourcen in Einklang zu bringen ist. Anhand der Praxisfelder des Naturschutzes, der Landwirtschaft, der Fischerei und der Klimapolitik wird mit Blick auf politische Prozesse dargelegt, wie eine Umsetzung des gewählten Konzeptes erfolgreich und effizient durchgeführt werden könnte.
Konrad Ott, Professor für Umweltethik an der Universität Greifswald, und Ralf Döring, Assistent am dortigen Lehrstuhl für Landschaftsökonomie, legen mit ihrer Monographie "Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit" (2004) eine erfreulich systematische, kenntnisreiche und informative, wenn auch nicht immer leicht zu lesende Darstellung des Themenfeldes vor, wobei sie "mit kontrollierten Modifikationen zugunsten partieller Substitution im Produktionsbereich" (S. 160) durchaus einverstanden sind. Die wesentlichen Gründe für ihre Entscheidung werden in den Kapiteln 2 und 3 ihres Buches überzeugend entwickelt. Es sind vor allem die Ungewissheit hinsichtlich zukünftiger Präferenzen, die bessere Verallgemeinerbarkeit starker Nachhaltigkeit (gegenüber "mittlerer Nachhaltigkeit mit Vorsichtsmaßregeln"), die Multifunktionalität ökologischer Systeme, das Vorsorgeprinzip angesichts von Ungewissheit, die damit mögliche größere Wahlfreiheit künftiger Generationen, die stärkere Berücksichtigung eudämonistischer Werte und die Schwierigkeiten, das "kritische" Naturkapital zu identifizieren (vgl. S. 160f.).
ie behaupten die größere Fruchtbarkeit dieses Forschungsprogramms auch deswegen, weil ihre Position weniger zugunsten eines ethischen Anthropozentrismus verzerrt sei, weil ihr keine Ethik der Maximierung des Gegenwartswertes zugrunde liege, weil vermittelnde Positionen zwischen "starker" und "schwacher" Nachhaltigkeit unklar seien und weil sie vermuten, die Darlegungslast bei Diskontierungsproblemen (nämlich bei den Vertretern dieses Ansatzes) könne vom Standpunkt einer modifizierten starken Nachhaltigkeit leichter integriert werden. Das Buch ist übersichtlich und logisch gegliedert: Weitgehend erreichtes Ziel des Textes ist es, "Grundlinien der mittlerweile weit verzweigten wissenschaftlichen Diskussion heraus zu arbeiten und einen Vorschlag zu einer theoretisch-konzeptionellen Orientierung zu entwickeln" (S. 19). Ein folgt ein knapper Abriss der Ideengeschichte, beginnend mit der Sylvicultura oeconomica des sächsischen Oberberghauptmanns Hans Carl von Carlowitz (1713), der den Begriff der "nachhaltenden Nutzung" als erster formulierte (während der Gedanke selbst sich bis in die Stadtwald- und Sudwaldordnungen des Spätmittelalters zurückverfolgen lässt).
Die weitere Darstellung des Einführungskapitels enthält neben Bekanntem (wie Robert Malthus, Club of Rome, Brundtland-Report) auch weniger Bekanntes und gleichwohl Interessantes wie etwa die Auffassung von Justus Liebig, dass man durch den Einsatz des von ihm erfundenen Kunstdüngers "vollen Ersatz der Bodennährstoffe" erreichen und damit Raubbau vermeiden könne - wogegen man aus der Sicht des ökologischen Landbaus natürlich einiges einwenden kann -, oder auch die hellsichtigen Warnungen des amerikanischen Diplomaten, Unternehmers und Privatgelehrten George Perkins Marsh vor einer Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, die "perhaps even [the] extinction of the [human] species" zur Folge haben könne (S. 23). Richtig stellen die Verfasser fest, dass das zentrale Problem der Nachhaltigkeit weniger die 1972 hervorgehobene und prognostizierte allgemeine Rohstoffknappheit, sondern die Gefährdung bzw. Veränderung natürlicher Kreisläufe und Selbstregulierungskapazitäten der Umwelt war; in den Kapiteln 5, 6 und 7 beleuchten sie diese Aussage anhand einer detaillierten Analyse von Naturschutz und Landnutzungssystemen, des Fischereimanagements und der Klimaproblematik.
Hervorragend gelungen ist Kapitel 2 über Gerechtigkeitsgrundlagen der Nachhaltigkeitsidee", die zugleich einen gedrängten, aber gleichwohl gut verständlichen Überblick über die philosophische Gerechtigkeitsdiskussion (insbesondere Rawls und Walzer) geben. Hier zeigt sich, dass eine weitere Verknüpfung des Nachhaltigkeits- und des Gerechtigkeitsdiskurses beide Diskurse befruchten und voranbringen könnte - mit durchaus nicht nur wissenschaftsimmanenten Konsequenzen. Anschaulich wird gezeigt, wie ein in der Ökonomie leider verpönter materieller Gerechtigkeitsbegriff auch die Gestaltung der Natur durch die Menschen mit und zugleich ihrer essentieller Bewahrung in Verbindung gebracht werden kann. Auch die Darstellung von starker vs. schwacher Nachhaltigkeit in Kapitel 3 (u. a. mit einer exzellenten Auseinandersetzung mit Herman Dalys strenger Komplementaritätsthese auf den S. 140-145) beeindruckt.
Mit dieser Diskussion bereiten Ott und Döring ihre eigene, oben bereits angeführte Positionierung zugunsten eines Konzepts modifizierter starker Nachhaltigkeit vor, wie es auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) vertritt, dem Konrad Ott angehört.
In Kapitel 4 wird das oft genannte, aber selten eingehend analysierte "Naturkapital" einer näheren Betrachtung unterzogen. Dabei wird die Behandlung von Natur und Kapital in der Neoklassik ebenso erörtert wie die Grenzen der Monetarisierung von Naturkapital, die im Anschluss an Ulrich Hampicke vor allem in folgenden Aspekten gesehen werden: (1) Respekt vor der individuellen Weigerung, Güter mit (auch noch so hohen) Preisen zu bewerten; (2) die von Kant hervorgehobene Selbstzwecklichkeit der Menschen, die möglicherweise auch auf Naturwesen ausgedehnt werden kann; (3) das Vorliegen lexikographischer Präferenzen; (4) die Unmöglichkeit, Präferenzen Betroffener, besonders künftig lebender Menschen zu ermitteln, und schließlich (5) die Nichtmonetarisierbarkeit natürlicher Lebensgrundlagen ("primary values"), wie etwa von Sonne, Sauerstoff oder Photosynthese. Dies macht eine Ermittlung des Gesamtnutzens von Naturkapital unmöglich (was zugleich auch eine Kritik an der prominenten Studie von Costanza et al. (1998) über den Wert der Dienstleistungen des globalen Ökosystems und das Naturkapital bedeutet). Neuere Ansätze, wie die Ermittlung des "Total Economic Value" oder die "Multikriterien-Analyse", aber auch die Einbeziehung diskursiver und partizipativer Verfahren bei der Bewertung, erlauben es heute, die Eindimensionalität traditioneller Kosten-Nutzen-Analyse zu vermeiden, ohne in die plapperhafte Beliebigkeit von Gedankenassoziationen zum Thema Natur zu verfallen. Die Autoren versuchen bei der Bestimmung von "Naturkapital" Engführungen, wie etwa das "essenzielle Naturkapital" des Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltprobleme, ebenso zu vermeiden wie extensive Definitionen, die "Naturkapital" mit "Natur" einfach gleichsetzen. Sie kommen zu folgender Begriffsbestimmung: "Naturkapital setzt sich zusammen aus all den Komponenten der belebten oder der unbelebten Natur, darunter besonders den lebendigen Fonds, die Menschen und höher entwickelten Tieren bei der Ausübung ihrer Fähigkeiten zu Gute kommen können oder die indirekte funktionale oder strukturelle Voraussetzungen für Nutzungen i.w.S. sind." (S. 213f.)
In den Handlungsfeldern Gewässerschutz, Bodenschutz, Siedlung und Verkehr, Forstwirtschaft, Landwirtschaft und Naturschutz, Meeresnaturschutz und Fischerei sowie Klimaschutzpolitik ergeben sich daraus praktische Konsequenzen, die in der zweiten Hälfte der vorliegenden Studie diskutiert werden.
Kapitel 5 betrachtet zunächst den ersten Anwendungsfall, die "Integration von Naturschutz in Landnutzungsysteme". Dabei geht es bei Fragen der Biodiversität vor allem um die Ermittlung von Präferenzen von Kultur- und Naturlandschaft anhand direkter und indirekter Methoden (Ermittlung der Zahlungsbereitschaft durch unmittelbare Befragungen bzw. durch Berechnungen der Aufwendungen für den Besuch bestimmter Landschaften und Landschaftsobjekte (Reisekostenmethode)). Bei allen methodischen Schwächen dieser Verfahren gibt es inzwischen doch starke Indikatoren dafür, dass in der deutschen Bevölkerung, aber auch in anderen Ländern eine bedeutende Nachfrage nach Naturschutzleistungen besteht - und damit gute Gründe dafür, Steuergelder für den Erhalt der Natur- bzw. Naturlandschaften in Deutschland aufzuwenden (vgl. S. 229). Sehr sachkundig ist auch der folgende Abschnitt zur europäischen Agrarpolitik und zur Weiterentwicklung des WTO-Regimes hin zu global liberalisierten Agrarmärkten. Weithin unbestritten dürfte demnach sein, dass in Zukunft die Honorierung ökologischer Leistungen einen immer größeren Stellenwert in den Einkommen der Landwirte einnehmen wird und dass eine weltweite Liberalisierung der Landwirtschaft sinnvoll nur in einem ökologischen Rahmen erfolgen kann (was eine Umformulierung der "green-box"-Bedingungen der WTO zu Gunsten der Honorierung ökologischer Dienstleistungen erfordert, die dann nicht mehr als verdeckte Subventionen diskreditiert werden dürften). Ein weiteres kenntnisreich dargestelltes Anwendungsgebiet ist das Fischereimanagement (Kap. 6); es profitiert besonders von den außergewöhnlich guten theoretischen und empirischen Kenntnissen des Mitverfassers Ralf Döring. Zutreffend werden die Überfischung der einzelnen Bestände und die Verringerung der (negativen) externen Effekte des Fischfangs als zentrale Probleme identifiziert, wobei ein vorsichtiger Optimismus zu Gunsten genossenschaftlicher Lösungsansätze erkennbar ist (die ja bis in die Neuzeit hinein weitaus erfolgreicher praktiziert wurden, als es eine vorwiegend vom Standpunkt heutiger Neoklassik formulierte "Tragedy of the Commons"-Diskussion erwarten lässt, die eher hypothetische Geschichte erfindet als tatsächliche Historie analysiert).
Der letzte Anwendungsfall, die Klimapolitik, ist Gegenstand des vorletzten Kapitels. Dieser Bereich ist in der vorhandenen Literatur ja schon recht ausgiebig diskutiert, so dass hier im Wesentlichen eine gute Zusammenfassung der vorhandenen Literatur und der vorliegenden Praxis darstellt wird (mit deutlicher, aber wohl berechtigter Kritik an der praktischen Umsetzung des CO2-Zertifikatshandels im Rahmen der EU und speziell Deutschlands). Das Fazit dieser ausführlichen Überlegungen wird in einem konzisen Abschlusskapitel dargestellt, in dem sowohl die Bedeutung als auch die Grenzen (strikter) Nachhaltigkeit thematisiert werden. Die Autoren hoffen - gerade im Hinblick auf die wesentlichen praktischen Probleme - auf einen sich heranbildenden Konsens über ein modifiziertes Konzept starker Nachhaltigkeit auf der Basis konkreter 316 Rezensionen interdisziplinärer Forschung. Das schwierige Problem einer immer in kurzfristigen Schritten erfolgenden Umsetzung einer langfristigen Nachhaltigkeitspolitik, bei der es kurzfristig meist Gewinner und Verlierer gibt, während erst langfristig alle profitieren, soll mit Hilfe eines "klugen 'transition managements' einschließlich attraktiver Anreizsystem" (S. 343) gelöst werden. Die existenzielle Bedeutsamkeit einer an starker Nachhaltigkeit orientierten Theorie sehen Ott/Döring vor allem in einer erweiterten Perspektive, wie sie beispielhaft anhand einer detaillierten Analyse der "Naturkapitals" in Kapitel 4 entwickelt wurde, welche die negentropischen Strukturen der belebten Natur in ihrer Vielfalt, Retinität und Fragilität sichtbar macht. Dieses theoretisch fundierte und zugleich problemorientierte Buch verdient es zweifellos, einer noch größeren Leserschaft durch Übersetzung ins Englische zugänglich zu werden."