"Ökologie und Wirtschaftsforschung" · volume 53
347 pp.
34.80 EUR
(incl. VAT and Free shipping)
ISBN 978-3-89518-464-2
Nachhaltigkeit meint weit mehr als ein Ziel oder einen Weg. Vielmehr handelt es sich um spezielle Realisationen komplexer ökologischer und gesellschaftlicher Prozesse in ihrer Interaktion. Hier berühren sich Beobachtungen und Bewertungen, Analysen und Handlungen, Beschreibungen und Teilnahme.
Das fordert die Wissenschaften heraus, in einem interdisziplinären Dialog die hintergründigen Dynamiken, die treibenden Kräfte und impliziten sozial-ökologischen Interaktionsprozesse offenzulegen. So ist nicht alleine die vieldiskutierte nachhaltige Entwicklung Gegenstand dieses Buches, sondern die einer solchen Entwicklung zugrundeliegenden Dynamiken. Die Analyse der Dynamiken der Nachhaltigkeit eröffnet Zugänge für deren zukunftsorientierte Gestaltung.
Im Rahmen dieser Perspektive soll der Fokus auf drei Themenfelder gerichtet werden, die bislang nur in einem engen Fachzusammenhang behandelt worden sind:
Jan C. Schmidt/Dirk Ipsen
Dynamische Perspektiven einer nachhaltigen Entwicklung
Teil I: Stabilität und Instabilität von Ökosystemen
Matthias Schäfer
Wieviel Vielfalt ist nötig?
Stefan Scheu/Barbara Drossel
Komplexität und Stabilität von Ökosystemen: Forschungsstand und offene Fragen
Volker Grimm
Irrungen und Wirrungen in der ökologischen Stabilitätsdiskussion. Bestandsaufnahme, Ursachen und eine Strategie zur Überwindung der Konfusion
Teil II: Zur Interaktion zwischen Ökosphäre und sozialem Nutzersystem
Astrid Schwarz
Ökologien und Nachhaltigkeitsdebatten
Martin Held/Klaus Kümmerer
Rhythmen und Resilienz. Nachhaltige Entwicklung in zeitlicher Perspektive
Matthias Hummel/Dirk Ipsen
Bedingungen nachhaltiger Ressourcennutzungssysteme zum Schutz der biologischen Vielfalt
Jürgen Scheffran
Vom Konflikt zur Kooperation bei der Nutzung natürlicher Ressourcen
Jan C. Schmidt
Zur Modellierung ressourcenbegrenzter Systeme. Modellmethodologische Perspektiven einer Dynamik der Nachhaltigkeit
Teil III: Zur gesellschaftlichen Wahrnehmung von Nachhaltigkeitsdefiziten
Hans-Jochen Luhmann/Karl-Otto Henseling
Gefahren(früh)erkennung. Auf dem Weg zu einer Lehre der Gefahrenerkenntnis
Jan Schwaab/Friederike Sorg
Wahrnehmungseffekte in der Umweltpolitik
Dirk Ipsen
Substitutionsprozesse und Nachhaltigkeit. Zur Wahrnehmung der Kritikalität von Ressourcen
Armin Grunwald
Die gesellschaftliche Wahrnehmung von Nachhaltigkeitsproblemen und die Rolle der Wissenschaften
"Anders als in den vorangegangenen Texten geht es beim Sammelband von Dirk Ipsen und Jan C. Schmidt (Technische Universität Darmstadt) weniger um "nachhaltige Entwicklung" generell, sondern vor allem um "die einer solchen Entwicklung zugrunde liegenden Dynamiken, ihre treibenden Kräfte, ihre je eigenen Zeitlichkeiten, ihre sozial-ökologischen Interaktionen sowie die jeweiligen Gestaltungskorridore und -Ziele" (S. 9). Es geht also um "eine inter- und transdisziplinäre Analyse hintergründiger Dynamiken", die eine nachhaltige Entwicklung fördern oder auch verhindern können. Die Herausgeber meinen, die "statischen" (auf Bewahrung ausgerichteten) und "kinematischen" (auf gesellschaftliche Suchbewegungen innerhalb des durch die Natur und Gesellschaft vorgegebenen Zustands ausgerichteten) Aspekte seien gegenüber den hier fokussierten "Dynamiken" nachrangig. Hierbei gehe es vor allem um "kontinuierliche Veränderungen, Emergenzen, Strukturbrüche und Instabilitäten in ökologischen, sozialen und technischen Systemen - und ihren technischen Interaktionen" (S. 12). Dementsprechend ist diese Textsammlung in drei Abschnitte gegliedert, deren erster sich mit "Stabilität und Instabilität von Ökosystemen" beschäftigt, während die "Interaktion zwischen Ökosphäre und sozialen Nutzersystemen" und schließlich die "gesellschaftliche Wahrnehmung von Nachhaltigkeitsdefiziten" die Leitbegriffe der beiden folgenden Themenfelder bilden. Schon die Liste der Autor(inn)en zeigt, dass hier zumindest Multidisziplinarität erreicht worden ist, denn neben Biologen, Physikern und Chemikern (nicht selten mit Doppelqualifikationen) finden sich auch Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler und ein Wirtschaftsingenieur.
Eine erste Übersicht über den Aufbau des Buches und die einzelnen Beiträge geben die Herausgeber in ihrer "einleitenden Skizze". In der ersten Themengruppe "Stabilität und Instabilität von Ökosystemen" wird die Dynamik der Nachhaltigkeit als "Systemdynamik" aufgefasst, wobei unterschieden wird zwischen einer generellen, jeweils zu präzisierenden Systemstabilität (die Resilienz gegenüber Anpassungsvorgängen und Störungen einschließt) und einem Gleichgewicht, das auch als Referenz für Systemzustände dient, die sich "weit entfernt" vom Gleichgewicht befinden. In diesem Kontext widmet sich der Ökologe und Biologe Matthias Schaefer der Frage, wie viel Vielfalt eigentlich nötig sei. Er untersucht die positiven Wirkungen, aber auch die Grenzen ("Schwellenwerte") von Diversität für bestimmte Prozesse und insbesondere für die Stabilität in ökologischen Subsystemen, wobei die "Wirkung von Vielfalt [...] vom betrachteten System und vom betrachteten Prozess [abhängig ist]" (S. 24f.). Schaefers Analyse ergibt, dass zwar die Notwendigkeit von Vielfalt bejaht werden kann, während die Titelfrage "Wie viel Vielfalt ist nötig?" angesichts der Komplexität der Fragegestellung und notwendiger Differenzierungen keine generelle Antwort erlaubt.
Einen guten Überblick über Komplexität und Stabilität von Ökosystemen aus der Sicht der Ökologie geben sodann die Physikerin Barbara Drossel und der Ökologe Stefan Scheu, indem sie über die Genese und den gegenwärtigen Forschungsstand informieren und daraus ein vorläufiges Fazit ziehen. Anfänglich intuitives Wissen um komplexe Interaktionen von Lebensgemeinschaften als Bedingung für deren Erhalt wurde zunächst durch einfache mathematische Modelle erschüttert, "um dann durch genauere empirische Untersuchungen und detailliertere mathematische Modelle auf ein neues Fundament gestellt zu werden" (S. 59). Besonders hervorzuheben ist hier auch das ausführliche und hilfreiche Literaturverzeichnis.
Den letzten Beitrag dieses Themenkreises, "Irrungen und Wirrungen in der ökologischen Stabilitätsdiskussion. Bestandsaufnahme, Ursachen und eine Strategie zur Überwindung der Konfusion" des Biologen und Physikers Volker Grimm, weist auf das Problem von Stabilitätskonzepten hin: ihre Anwendung in der Ökologie impliziert die Projektion eines komplexen ökologischen auf ein einfaches dynamisches System. Die Notwendigkeit, sich für bestimmte Zustandsvariablen, Referenzzustände und Störungstypen zu entscheiden, wird durch eine "ökologische Checkliste" berücksichtigt, "die dazu dient, Aussagen über Stabilitätseigenschaften ökologischer Systeme zu strukturieren und zu klassifizieren" (S. 73). Eine Liste der in der Literatur gefundenen Stabilitätsbegriffe (S. 75) zeigt die Optionen: Man kann Stabilität durch Neudefinition eines an sich schon geläufigen Begriffes gewinnen oder einen neuen Begriff definieren und man kann schließlich auch den klassischen Stabilitätsbegriff durch bestimmte Zusatzeigenschaften wie "adjustment" oder "trajectory [stability]" in eine jeweils gewünschte Richtung hin erweitern.
Die Autoren gehen den Ursachen der Sprachverwirrung nach, die sich einerseits aus dem Stabilitätsbegriff, andererseits aus der Vielfalt ökologischer Situationen speist, woraus sich dann die Notwendigkeit der bereits erwähnten "ökologischen Checkliste" (S. 83) ableiten lässt. Auch hier wird der Leser durch eine ausführliche Literaturliste zum Weiterstudium ermuntert. Die folgenden fünf Beiträge sind den verschiedenen Aspekten der Interaktion zwischen Ökosphäre und sozialen Nutzersystemen gewidmet.
Die Biologin, Ethnologin und Philosophin Astrid E. Schwarz berichtet über die Wechselbeziehung einer sich heranbildenden naturwissenschaftlichen Ökologie mit den sie begleitenden gesellschaftspolitischen Debatten um Wachstumsgrenzen und Perspektiven der Nachhaltigkeit. Ihr knapper Überblick führt zu dem Ergebnis, "dass der Begriff der Nachhaltigkeit bestenfalls im Sinne eines Grenzbegriffs funktionieren kann, es also erlaubt, die notwendige Auseinandersetzung um ökonomisches Wachstum und 'die Umweltproblematik' in einem bestimmten Diskursfeld von sehr unterschiedlichen Positionen aus zu thematisieren", und zwar im Hinblick auf eine handlungsfähige Politik, welche die Engführungen einer Ökologisierung der Ökonomie ebenso vermeidet wie eine vollständige Ökonomisierung der Natur.
Der Wirtschaftswissenschaftler Martin Held und der Chemiker Klaus Kümmerer beleuchten sodann unter dem Titel "Rhythmen und Resilienz" die zeitliche Perspektive von nachhaltiger Entwicklung. Ihre Analyse der Problemfelds, insbesondere auch der Nachhaltigkeitsregeln, mündet in die Folgerung, dass es einer "evolutiv-dynamischer Perspektive" nachhaltiger Entwicklung bedürfe; dabei müsse die bisherige auf Beherrschbarkeit und vollständiges Wissen unter Ausschluss von Unsicherheit ausgerichtete "Kontrollorientierung" durch eine neue Grundhaltung überwunden werden, "die sich die flexible Ordnung der Rhythmen zunutze macht"; in dieser Sichtweise werden "Störungen" also nicht als exogene Interventionen aufgefasst, sondern vorausschauend als Bestandteile raum-zeitlicher Entwicklungsprozesse begriffen. Nicht das Festhalten von vorgegebenen Zuständen, sondern die Anerkenntnis von Prozessen des Lebens und der Entwicklung und "die Beachtung des Zusammenspiels unterschiedlicher Raum- und Zeitskalen" (S. 145) seien erforderlich, oder kurz, wenn auch ein wenig abstrakt: "Nachhaltigkeit ohne Entwicklung ist nicht nachhaltig" (ebd.).
Matthias Hummel, Wirtschaftsingenieur und Verantwortlicher im Bereich "Finanzielle Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern" bei der KfW, und Dirk Ipsen, Hochschullehrer für Politische Ökonomie, untersuchen nun die "Bedingungen nachhaltiger Ressourcennutzungssysteme zum Schutze der biologischen Vielfalt". Anhand einer Fallstudie widmen sie sich vor allem der Frage, welche Konsequenzen sich aus den Ergebnissen der ökologischen Forschung für die Regelung von Nutzersystemen ableiten lassen, die den Schutz biologischer Vielfalt zum Ziel haben. Am Beispiel des Holzeinschlags in Ost-Kalimantan veranschaulichen sie, dass bei nicht-nachhaltiger Nutzung natürlicher biologischer Ressourcen komplexe Wirkungsketten in Gang gesetzt werden, die durch weitere Rückkoppelungen verstärkt werden. Auf der Handlungsebene erweisen sich insbesondere starke Verhandlungsmacht einzelner Akteure sowie unzureichende Partizipation der Beteiligten und Betroffenen als Hauptursachen für gefährliche Entwicklungen, an deren Ende die dauerhafte Schädigung des Ressourcenbestands und die Degradation des Ressourcensystems stehen können (vgl. S. 174).
Der Physiker Jürgen Scheffran, der sich vor allem mit der Stabilität komplexer Systeme beschäftigt hat, entwickelt sodann ein dynamisches Multiakteurs-Spielmodell auf der Basis einer zusammenfassenden Darstellung von Konflikt und Kooperation sowie von System- und Akteursmodellen im Kontext der Nutzung natürlicher Ressourcen. Seine "Analyse legt nahe, dass die Existenz von Gleichgewichtspunkten der Dynamik im zulässigen Mittelbereich eine Voraussetzung für die Bildung von Akteurskoalitionen ist, während im Falle instabiler Interaktionen eine Koalition nicht dauerhaft existenzfähig ist" (S. 201). Institutionelle Bedingungen für eine stabile und nachhaltige Mensch-Natur-Wechselwirkung sind dabei die Vermeidung von Konflikten und die Herausbildung kooperativer Strukturen (etwa beim Fischereimanagement), "die auf eine gegenseitige Verstärkung von Nachhaltigkeit und Kooperation abzielen".
Im letzten Beitrag dieses Teils beschäftigt sich der Physiker und Philosoph Jan C. Schmidt in methodologischer Absicht mit der Modellierung ressourcenbegrenzter Systeme. Er unterscheidet dabei zwischen einem ontologischen Zugang zu Grenzen, die auch dann als existent angenommen werden, wenn sie empirisch nicht nachweisbar sind, einem epistemologischen Zugang zu Grenzen in Modellen, im Wissen und in der Begründung, einer methodologischen Perspektive, in der Grenzen als zweckmäßige Methoden, Verfahren und Regeln zur Erkenntnisgewinnung betrachtet werden, und schließlich einem operationalen Zugang, bei dem es nicht nur um Erkenntnisgewinnung und theoretische Darstellung, sondern vor allem um die Gestaltung und das handelnde Eingreifen des Menschen geht. Darauf aufbauend nähert sich der Autor dem Begriff der "Grenze" mathematisch-modelltheoretisch an; er überprüft die Modellierung anhand von Beispielen: Orbit-Stabilisierung durch Grenzen, visualisiert durch die ressourcenbegrenzte logistische Abbildung; Kopplungen durch Grenzen in Form einer "grenzgekoppelten Abbildung"; der Fall der "Nichtlinearität und Sensitivität durch Grenzen" am Beispiel des "Umwelt-Ökon-Oszillators" und schließlich die "Systemstabilisierung durch Grenzen" am Beispiel einer ressourcenbegrenzten Volkswirtschaft. "Grenzen", so das Ergebnis dieser Überlegungen, haben den Charakter des Diskontinuierlichen und sind daher "ein facettenreicher Hybridbegriff zwischen Erkennen und Gestalten, zwischen Wissensbildung, Modellkonstruktion und Instrumentenentwicklung" (S. 240). Die vier genannten unterschiedlichen Zugänge sind nicht nur Ausdruck distinkter Hintergrundüberzeugungen, sondern auch verschiedenartiger Aspekte des Begriffs "Grenze". Ob sich die von Jan C. Schmidt hier postulierte "Modellklasse mit Grenzen" als bedeutendes und produktives Konzept für die Nachhaltigkeitsforschung erweisen wird, lässt sich indessen gegenwärtig noch nicht abschließend entscheiden.
Die dritte Themengruppe befasst sich mit der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Nachhaltigkeitsdefiziten, die auch Konsequenzen für die Gestaltung unserer Lebensbedingungen hat. Der Wirtschaftswissenschaftler Hans-Jochen Luhmann und der Chemiker Karl-Otto Henseling widmen sich dem Problem der "Gefahren(früh-)erkennung", indem sie zunächst auf die "Realität von Gefahren" im Kontext von Risiko, Unsicherheit und Unwissenheit eingehen. Dass gerade Nachhaltigkeit zentral von Gefahrenfrüherkennung, und das heißt vor allem auch: Beschaffung und nicht Verdrängung von Folgewissen, abhängt, erläutern die Verfasser am Beispiel der Produktrisiken. Angesichts "gesellschaftlicher Blindheit" sind die Akteure (Wissenschaft, Gutachter, Behörden, Justiz, Unternehmen) in besonderer Weise gefordert und oft wohl auch überfordert. Nicht zufällig geraten dann auch "whistle blower" in persönliche Schwierigkeiten, und das macht es umso dringlicher, dass Gefahrenerkenntnis - nicht zuletzt auch verstanden als Erkenntnis von Erkenntnisgrenzen - ein zentrales Element einer umfassenden Nachhaltigkeitskultur wird, die sich nicht nur am untersten Maßstab einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit orientieren darf.
Die Wirtschaftswissenschaftler Jan A. Schwaab und Friederike Sorg, beide tätig bei der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), kommen bei ihrer Untersuchung von Wahrnehmungseffekten in der Umweltpolitik (die sie durch technische Probleme der Informationsbeschaffung, durch Anreizprobleme und durch Rationalitätsdefizite bestimmt sehen) zu einer formalen Analyse von Wahrnehmungseffekten, aus der sich u.a. die Notwendigkeit ergibt, "Präferenzen nicht länger als nicht-hinterfragte Grundlage rationaler Umweltpolitik" (S. 287) zu betrachten. Eine wichtige Rolle dürfte daher dem partizipativ-demokratischen Konzept einer nachhaltigen Entwicklung zukommen, das auch durch eine langfristige, institutionalisierte Gestaltung von Umweltpolitik und institutionelle Maßnahmen zur Steigerung öffentlicher Wahrnehmung begleitet sein muss. Nur so können nach der Analyse der Autoren stabile Präferenzen für Umweltqualität als notwendige Bedingung für Nachhaltigkeit entstehen. Die Wahrnehmung der "Kritikalität" von Ressourcen und die damit zusammenhängende Frage nach Substitutionsprozessen ist ja ganz entscheidend dafür, ob man starke oder schwache Nachhaltigkeit anstrebt.
Dirk Ipsen analysiert anhand der historischen Fallbeispiele "Holzknappheit" im Deutschland des 17. und 18. Jahrhunderts und "Substitution von Holz [und Holzkohle] durch Steinkohle" in England das Phänomen fundamentaler langfristiger Substitutionsprozesse, die mit bestimmten Technologiepfaden einhergehen. Diese historischen Belege zeigen, dass Substitution kein bloßer Anpassungsprozess an Knappheiten ist, sondern mit bewusster technologischer und institutioneller Gestaltung einhergeht. Hier kommen Fragen gesellschaftlicher Wahrnehmung sowie der Entscheidungsbildung und -durchsetzung zum Tragen, die den Rahmen traditioneller neoklassischer Theorie bei weitem übersteigen. Die Rolle der Wissenschaft, ansatzweise schon bei Luhmann/Henseling diskutiert, ist auch zentraler Gegenstand im Beitrag von Armin Grunwald, Physiker und Philosoph, der die gesellschaftliche Wahrnehmung von Nachhaltigkeitsproblemen wesentlich durch deren wissenschaftliche Bearbeitung geprägt sieht. Dabei kann wissenschaftlicher "Alarmismus" ebenso gefährlich sein wie eine übertriebene Zurückhaltung, die auf erkennbare Gefahren erst dann hinweist, wenn der Zusammenhang vollkommen eindeutig belegt und damit der Zeitpunkt zum Gegensteuern vielleicht schon verpasst ist. Aufbauend auf früheren Arbeiten entwickelt er Regeln für ein stufenweises Vorgehen unter Beachtung struktureller Probleme in der wissenschaftlichen Identifikation und Analyse von Nachhaltigkeitsdefiziten. Neben den bekannten Konflikten um Abgrenzung, Abwägung, Indikatorenauswahl und Verteilung kommt hierbei noch ein weiterer Typ in den Blick, nämlich die "Wahrnehmungskonflikte", insbesondere im Hinblick auf die oftmals strittige Frage, was im konkreten Fall ein relevantes Nachhaltigkeitsproblem darstellt und was nicht. Die konstruktive Bewältigung solcher Konflikte ist für Armin Grunwald "der Motor einer gesellschaftlichen Dynamik der Nachhaltigkeit" (S. 338). Verglichen mit den drei zuvor genannten Büchern enthält diese Textsammlung sehr viele spezialisierte, aber deswegen nicht unwichtige Fragestellungen, Analysemethoden und daraus resultierende theoretische und praktische Einsichten, vor allem in oftmals nicht hinreichend detailliert betrachteten physikalischen, biologischen, chemischen und ökologischen Zusammenhängen."
"... Die Dimensionen der Dynamiken der Nachhaltigkeit werden in einem Dreischritt erörtert. Ausgehend von der Frage nach Stabilität und Instabilität werden im ersten Teil des Sammelbandes in Beiträgen aus Ökologie und Ökosystemforschung Entwicklungsprozesse von Ökosystemen in den Blick genommen. Im Zentrum der drei Beiträge stehen Klärung und Umgang mit unterschiedlichen Stabilitätskonzepten.
Im zweiten Teil liegt der Fokus der Diskussion auf der Interaktion zwischen Ökosphäre und sozialen Nutzungssystemen. Im dritten Schritt werden diese "ökosoziotechnischen" Interaktionen in ihren dynamischen Wahrnehmungs- und Handlungsprozessen analysiert.
In dieser Vielseitigkeit regt der Sammelband zu einer äußert differenzierten Auseinandersetzung mit dem Nachhaltigkeitsbegriff an. Das sonst oft schwammige Leitbild der Gesellschafts- und Umweltpolitik wird als relationaler Begriff ernst genommen und in seinen vielseitigen Handlungsfeldern expliziert: Nachhaltigkeit als Leitbild mit Orientierungs- und Umsetzungsfunktion, als Defizitansatz mit der Gretchen-Frage nach der Nicht-Nachhaltigkeit und als normativer Bewertungsansatz. Die Autor/innen konkretisieren den Nachhaltigkeitsdiskurs, indem sie Zeit- und Zukunftsdimensionen sowie Formen der Wissensproduktion für Nachhaltigkeit diskutieren, und die Frage nach geeigneten Analysemethoden und -kriterien stellen. ...
Insgesamt haben Ipsen und Schmidt einen sehr heterogener Sammelband zusammengestellt, der gerade durch seine Vielseitigkeit und Detailliertheit das Querschnittsthema der Dynamiken der Nachhaltigkeit angemessen erschließen kann. Durch den Fokus auf die Zeitdimensionen der Nachhaltigkeit weisen die Autor/innen auf einen erfrischend neuen Zusammenhang zwischen verschiedenen Forschungs- und Gestaltungsebenen der Nachhaltigkeit hin und bieten den Leser/innen damit gleichzeitig die gemeinsame zeitliche Klammer der 'Dynamiken' für die verschiedenartigen Beiträge und Zugänge. ..."
"Fragen der Nachhaltigkeit werden in der ökonomischen Theorie nach wie vor eher in 'Modewellen' diskutiert. Der vorliegende Band bietet eine exzellente Grundlage, die Nachhaltigkeitsfrage systematisch in der Wirtschaftstheorie zu verankern, gerade weil der multidisziplinäre Anspruch des Bandes die ökonomischen Fragen in besonderer Weise zu fokussieren vermag.
Insgesamt ist der Band lesenswert, und aus der Fülle interessanter Beiträge seien nur zwei hervorgehoben, die allein das Buch empfehlenswert machen. Der einführende Beitrag von Jan C. Schmidt und Dirk Ipsen ist eine ganz hervorragende Grundlage für die Nachhaltigkeitsdebatte insgesamt. Er zeigt nicht nur die bisherigen Entwicklungsstränge dieser Debatte auf und erläutert plausibel die Relevanz präziser Begrifllichkeiten, sondern eröffnet darüber hinaus eine neue Perspektive zur Integration von Nachhaltigkeitsfragen als genuinen Bestandteil wissenschaftlichen Denkens im Allgemeinen wie auch speziell in der Ökonomik. Dazu werden einerseits die eher statischen Nachhaltigkeitskonzepte der 1960er Jahre und andererseits die ergänzenden kinematischen Sichtweisen der 1980er Jahre skizziert, die Bewegung, Anpassung und Entwicklung zur Bewahrung von Grenzen behandelten, ohne allerdings zeitliche Dimensionen oder Entfaltungs- und Innovationspotenziale mit zu diskutieren. Der in beiden Vorstellungen angelegte Bewahrungsaspekt der Nachhaltigkeit ist aus Sicht der Autoren jedoch revisionsbedürftig. Sie legen plausibel dar, dass im Nachhaltigkeitsdiskurs durch den von ihnen verwendeten Begriff der Dynamik hervorgehoben wird, dass es in ökologischen, sozialen und technischen Systemen kontinuierliche Veränderungen, Emergenzen und Instabilitäten gibt, die sowohl zunächst einfach beobachtbar, in gewissen Grenzen aber auch gestaltbar sind. In diesem Systemverständnis wird weder eine völlige Offenheit im Sinne der Beliebigkeit (was auch keine Gestaltungsspielräume eröffnen würde) noch ein technologischer Determinismus unterstellt. In ihrer modifizierten zukunftsgestaltenden Konzeption der Nachhaltigkeit sind Dynamik und Innovation Schlüsselbegriffe, wobei insbesondere die Potenzialentwicklung, also mögliche Innovationen ökosoziotechnischer Systeme, und die Schaffung von Bedingungen der Möglichkeiten von und zur Nachhaltigkeit im Zentrum stehen. Das alles bleibt nicht auf einer völlig abstrakten Ebene einer Wunschvorstellung, sondern wird von den Autoren konkretisiert, indem auf die Konsequenzen für die orientierend kognitive, die analytische, die methodologische, um die normative, die prozedurale und die organisatorische Ebene hingewiesen wird. Die Schlussfolgerungen aus diesen Überlegungen betreffen u.a. Objekte, Gegenstandsbereiche und Analysemethoden des Nachhaltigkeitsdiskurses, die Ankopplung an gesellschaftliche Wertvorstellungen, die Organisation des Wissenschaftsbetriebes und die Anbindung von Fragen politischer Entscheidungsprozesse.
Der zweite Beitrag, der hier besonders erwähnt werden soll, ist der von Held und Kümmerer, der sich mit Rhythmen und Resilienz, der nachhaltigen Entwicklung in zeitlicher Perspektive beschäftigt. Dabei geht es wesentlich um die systemkonstituierende Rolle von Systemzeiten und die Bedeutung von Produktion und Reproduktion. Bei natürlichen und sozialen Nutzersystemen können durch Interaktionen Zeitinkonsistenzen Störungen und Instabilitäten verursachen, die analytisch relevant sind. Die Autoren verweisen zunächst auf grundlegende Arbeiten von Keynes (zu den 'ökonomischen Möglichkeiten für unsere Enkel') und Hotelling (als Begründer der Ressourcenökonomik) und die verkürzte Rezeption dieser Ideen in der Wirtschaftstheorie. Sie zeigen aber nicht nur die Defizite traditioneller Modelle wie etwa der Ressourcenökonomik auf, sondern diskutieren auch analytisch passende Zeitkonzepte für die Ökonomik, in denen Systemzeiten konsistent modelliert werden können, also die einem System oder Prozess inhärente Zeitskalen, die z.B. jeweils angeben, wie lange die Reproduktionszeit eines Systems ist. Dies wird mit gut gewählten Beispielen ergänzt und führt zu dem Fazit, dass Naturkapital keine Bestandsgröße darstellt, sondern Prozesse mit geeigneten Zeitkonzepten zu thematisieren sind. Nur dann ist es möglich, das Zusammenspiel der unterschiedlichen Zeit- und Raumskalen mit je spezifischen Eigenzeiten der Systeme, unterschiedlichen Geschwindigkeiten, kontinuierlich akkumulierende und auch abrupte Änderungen mit den genuinen Unsicherheiten der Prozesse analytisch geeignet zu thematisieren.
Das Fazit des gesamten Buches, dass Nachhaltigkeit und Entwicklung sich gegenseitig bedingen, ist vielleicht keine ganz neue Perspektive, aber die Relevanz von Pfadabhängigkeiten und die darin angelegten Gestaltungsmöglichkeiten werden auf interessante und für die Ökonomik notwendige Weise aufgegriffen. Der Anspruch auf Multidisziplinarität wird erfüllt, wenn man auch diesem Band die Schwierigkeiten der Verständigung über die Disziplinen hinweg anmerkt und manches nur ein Nebeneinander wissenschaftlicher Positionen ist. Dennoch gelingt es in einigen Beiträgen vorbildlich, über die Disziplinen hinweg am Thema orientiert innovativ zu arbeiten."
Irrungen und Wirrungen in der ökologischen Stabilitätsdiskussion
Die gesellschaftliche Wahrnehmung von Nachhaltigkeitsproblemen und die Rolle der Wissenschaften
Rhythmen und Resilienz
Bedingungen nachhaltiger Ressourcennutzungssysteme zum Schutz der biologischen Vielfalt
Substitutionsprozesse und Nachhaltigkeit
Gefahren(früh-)erkennung
Vom Konflikt zur Kooperation bei der Nutzung natürlicher Ressourcen
Zur Modellierung ressourcenbegrenzter Systeme
Wahrnehmungseffekte in der Umweltpolitik
Ökologien und Nachhaltigkeitsdebatten
Komplexität und Stabilität von Ökosystemen