Aus der Einleitung des Beitrags:

Der Sozialstaat ist unter Druck geraten - und mit ihm der Egalitarismus in die Defensive. Sowohl innerhalb als auch außerhalb der Akademie floriert eine Freiheitsrhetorik, in deren Licht jeder anspruchsvollere Gleichheitsbegriff sich geradezu als politische Monstrosität ausnimmt. Nicht dass Gleichheit generell verworfen würde, sie wird nur zunehmend trivialisiert. Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht, Religion etc. gilt nach wie vor als verpönt. Doch in der Forderung, solche Benachteiligungen gesetzlich zu unterbinden, erschöpft sich der egalitäre Gehalt des neuen politischen Denkens auch meist schon. Gleichwohl haben wir es lediglich mit einer Trivialisierung des Begriffs der Gleichheit zu tun. Die Strategien der Diskriminierungsbekämpfung dagegen generieren einen (juristischen) Diskurs, der an Sophistikation kaum noch zu überbieten ist (mit dem Verbot der "mittelbaren Diskriminierung" wird das Argumentationsterrain ziemlich unwegsam). Das ist bemerkenswert. Denn dass Antidiskriminierungsgesetze zum Inbegriff vertretbarer Gleichheitsorientierung geworden sind, steht in augenfälligem Kontrast zur weit verbreiteten Skepsis gegenüber allen Ambitionen der gesellschaftlichen Feinsteuerung - genauso wie der populäre Topos der "sozialen Treffsicherheit".

Im Gegensatz zum Sozialstaat, der lediglich "umzubauen" sei (nicht zuletzt im Sinne größerer "sozialer Treffsicherheit"), wird der Egalitarismus von vielen explizit verworfen. Nun wird man schwerlich behaupten können, dass nur die egalitaristische Philosophie eine Sozialstaatsbegründung anzubieten habe. Im Folgenden soll aber gezeigt werden, dass der Egalitarismus, angemessen rekonstruiert, die beste Begründung liefert. Insbesondere vermag er Maßstäbe wie Freiheit und Effizienz durchaus zu integrieren. Nichtsdestoweniger begründet der Egalitarismus nicht genau dasselbe wie eine freiheitsfunktionalistische, eine diskursethische oder eine Suffizienztheorie des Sozialstaats (Kersting 2002, S. 35-58).

Im Folgenden werde ich zunächst die geläufigsten Bedenken gegen den Egalitarismus skizzieren, die allesamt um das Thema kontingenter Ungleichheiten kreisen (1. Abschnitt). Danach werde ich vorschlagen, Gleichheit nicht als zu maximierenden Wert, sondern als Nebenbedingung (side-constraint) zu begreifen, die vor allem bei der Gestaltung von Institutionen und der Bestimmung individueller Rechte zum Tragen kommt (2. Abschnitt). In der Folge werde ich diesen Gedanken ein wenig präzisieren, indem ich ihn auf die verschiedenen Ebenen der Politik anwende (3. Abschnitt). Dabei wird sich hoffentlich herausstellen, dass der Egalitarismus keineswegs jene extravagante Ideologie ist, als die er nach dem Studium der Texte mancher seiner Vertreter erscheinen mag. Jedenfalls aber wird er - ohne gänzlich zahnlos geworden zu sein - einiges von der Ungeheuerlichkeit eingebüßt haben, die er in den Porträts seiner Kritiker aufweist. Am Ende werde ich die Ergebnisse im Einzelnen noch einmal kurz zusammenfassen (4. Abschnitt).