237 pp.
24.80 EUR
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ISBN 978-3-7316-1503-3
Die uns vertraute repräsentative Demokratie mit der Möglichkeit, alle vier oder fünf Jahre politische Parteien oder deren persönliche Repräsentanten zu wählen, hat unter anderem den Mangel, dass sie demokratische Entscheidungen über die materiellen Infrastrukturen der Gesellschaft nicht wirklich zulässt: wie etwa die Mobilität oder die Energieversorgung oder auch wie die Organisation von Landwirtschaft und Ernährung in Zukunft aussehen soll. Die Möglichkeit zu ökonomischen Proportionswahlen würde das ändern: Die Bürgerinnen und Bürger bekämen das Recht, direkt darüber zu entscheiden, wie sich künftig die Proportionen z. B. zwischen individuellem Autoverkehr und öffentlichem Nah- und Fernverkehr gestalten sollten.
Des Weiteren liefert das Buch eine Argumentation zu einer Thematik, die viel mehr Aufmerksamkeit verdient, als sich bisher in den wissenschaftlichen wie politischen Debatten und Texten zeigt: zur Unterscheidung von Marktwirtschaft und Kapitalismus. Der grenzenlose Drang zur permanenten und möglichst immer rentableren Kapitalverwertung in Kombination mit sehr spezifischen Eigentumsverhältnissen und daraus resultierenden sozialen Verwerfungen resultiert mitnichten aus dem marktwirtschaftlichen Koordinationsmechanismus. Michael Jäger erläutert, inwiefern der sonst so weitsichtige Karl Marx es an diesem Punkt nicht zu wirklicher Klarheit gebracht hat. Wenn sich die Märkte von Proportionswahlen regieren ließen, so die Argumentation, ließen sich die Kriterien der Marxschen Theorie erfüllen. Für Michael Jäger wäre das nichts weniger als eine Revolution, ohne Sturm auf die Bastille oder aufs Winterpalais.
Aus dem Geleitwort von Reinhard Pfriem
"... Letztlich geht es bei Jägers Vorschlag für eine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus um die Einlösung des Freiheitsversprechens der Aufklärung. Freiheit im Kapitalismus bedeute vor allem Anpassung, in Wahlkabinen wie auf Märkten: Bei Parlamentswahlen antworteten die Wählenden nicht auf ihre eigenen Fragen zur Gestaltung des Gemeinwohls, sondern auf Fragen, die andere, nämlich die einflussreichen Parteien, gestellt haben, genauso wie auf Märkten, wo nur zur Wahl stehe, was aus Verkaufs- und finanzstrategischen Kalkülen anderer angeboten wird. Das gilt im Prinzip nicht nur für Konsumenten, wenn es um die Qualitäten, Quantitäten und Preise von Gütern gehe. Auch Investoren und Unternehmer, so muss ergänzt werden, antworten auf je bestimmte Gegebenheiten, die zwar auch von Menschen, aber ohne vorausgehende kollektive Diskurse und dementsprechend ohne kollektives Bewusstsein geschaffen wurden. Jäger ist davon überzeugt, dass die "neue ökonomische Freiheit" diese Anpassungszwänge überwinden könne.
Was trotz der ökonomischen Wahlen freilich bleibe, sind jene Märkte, die sich aus der Urwahl und den Proportionswahlen schließlich ergeben. Um auch innerhalb dieser Märkte echte Freiheit zu ermöglichen, so räumt Jäger ein, seien einige Randbedingungen erforderlich. Unternehmer müssten etwa einen Kredit aufnehmen können, ohne befürchten zu müssen, ihn nicht mehr zurückzahlen zu können. Arbeitende müssten die Wahl ihrer Arbeit von der Gesamtheit ihrer Umstände (Arbeitsbedingungen, Einkommen, Sicherheit) abhängig machen können. Und Konsumenten müssten die Möglichkeit haben, Waren zu sozial und ökologisch verträglichen Preisen erwerben zu können. Die "äußere" Freiheit im Kontext der Proportionswahlen und die "innere" Freiheit im Kontext des Marktverhaltens müssten eine Einheit bilden, wenn der Anspruch erhoben werden soll, dass Menschen tatsächlich als Subjekte "frei" sind. Um diese doppelte Freiheit zu gewährleisten, so Jäger, müssten die Subjekte "aus ihrem Mitlaufen, insofern ,Funktionieren", heraustreten können, um sich selbst, obwohl sie 'innen' sind, von 'außen' betrachten zu können, und das in bewusster Regelmäßigkeit auch tun." (236, Hervorhebung im Original). Im Grunde, so der Rezensent, geht es Jäger um eine Form des Wirtschaftens und Lebens, die der Befähigung des Menschen zur Reflexivität gerecht wird. Frei ist der Mensch in der Tat erst dann, wenn er den basalen Zyklus zwischen seinem Eingreifen und dem Begreifen dessen, was das Eingreifen bewirkt, bewusst zu vollziehen vermag, und das heißt aus seinem tiefsten Inneren heraus vollzieht. Die Umsetzung der Idee der wirtschaftlichen Wahlen und ihre Verbindung mit Marktprozessen, die ja die für Märkte charakteristische Willkürfreiheit durch den zuletzt angesprochenen Rahmen erheblich beschränken muss, mag zwar eine Vielzahl ungeklärter organisatorischer Fragen aufwerfen. Dennoch handelt es sich um eine originelle Version eines dritten Weges zwischen Kapitalismus und Sozialismus, die aus Sicht des Rezensenten mit Recht als "revolutionär" gelten kann."
Mit diesem Buch legt Michael Jäger eine Summe und Synthese seiner langjährigen Überlegungen darüber vor, wie eine postkapitalistische, vom unbegrenzten Profitzwang und den damit verbundenen katastrophischen exponentiellen, »ins Unendliche strebenden« Trends befreite Ökonomie und Gesellschaft: erstens funktionieren, und zweitens wie sie konkret erreicht werden könnte. Ähnlich wie bei seinem durchgängigen Bezugspunkt Marx, dessen Kapitalismustheorie er sowohl in Grundzügen fortsetzen, gleichwohl aber in wichtigen Punkten korrigieren möchte, ist seine Studie von einer Art Dualismus zwischen theoretischen Modellüberlegungen und aktualhistorischen Bezugsnahmen gekennzeichnet. Einen einfachen Zugang bilden die zweiten: Anknüpfend an die ökologische Kapitalismuskritik seit dem Alarm des Club of Rome begründet er die Notwendigkeit einer sowohl ökonomischen wie gesamtgesellschaftlich-kulturellen »Revolution« mit der wachsenden Einsicht in die Begrenztheit des Lebensraums Erde: Der endliche »Umweltraum«, ablesbar etwa an der Kennziffer des »korrekten ökologischen Fußabdrucks«, erzwinge den radikalen Bruch mit der unendlichen Wachstumstendenz des Kapitalismus. Noch konkreter: Wie kann erreicht werden, dass der MIV (motorisierte Individual-Verkehr) zugunsten des ÖV (öffentlichen Verkehrs) radikal verringert wird, um Treibhausgas radikal zu reduzieren? An diesem konkreten Fall entwickelt der Verfasser sein Modell einer Erweiterung der politischen um eine ökonomische Demokratie mittels »Proportionswahlen«: Wäre die Proportion MIV:ÖV heute etwa 4:1, so könne sie durch demokratische Mehrheit in einer Wahl etwa auf 1:4 verändert werden. Es ist klar, dass eine solche Wahl bloß die Konsequenz einer radikalen Änderung des ganzen demokratischen Rahmensystems sein und dass die daraus folgenden ökonomischen Umschwünge ebenfalls sehr komplex sein müssten. Wieweit diese Revolution (die als friedliche Umgestaltung der vorgängigen westlichen »parlamentarischen Gesellschaft« postuliert wird) immanent konsistent und aktualhistorisch plausibel ist, muss dem Urteil nach Lektüre überlassen bleiben.
Die Frage der Konsistenz führt in die theoretischen Modellüberlegungen, die wiederum nach zwei Aspekten gegliedert sind: Ökonomie (mit der kritischen Neufassung von Marxens Kapital-Gleichungen und seines Geldkonzepts, gestützt auf u.a. Graeber, Polanyi, Ota Sik, Rudolf Bahro u.a.) und »Diskurstheorie«. Der erste Aspekt lässt sich wiederum nicht kurz fassen, seine Quintessenz lautet: Marktwirtschaft führt nicht notwendig zu Kapitalismus, sie kann so modifiziert werden, dass sie Postkapitalismus gewährleistet - der zweite Aspekt betrifft direkt das Projekt der kRR. Jägers Diskurs-Begriff schließt explizit an Lacan an (181), implizit aber offensichtlich auch an Habermas, und nicht an Foucault (ebd.). Analog zu Lacan postuliert er vier »Diskurse« (183 u.v.a.): einen »metaphorischen«, einen »subsumtiven«, einen »angleichenden« und einen »fragend-antwortenden«. Diese »Diskurse« sollen je einen megahistorischen Typ von Subjektivität, von Gesellschaft-Kultur und von Ökonomie, darunter speziell von Tausch und Geld, bezeichnen. Als »metaphorisch« wird die ›Mentalität‹ bzw. der ›Kommunikationstyp‹ (so verstehe ich es) vorstaatlicher Kulturen des Potlatsch bezeichnet, die auf symbolisch kodiertem Tausch per »Anerkennung« postulierter und dann religiös stabilisierter Analogien beruhten. Als »subsumtiv« gelten hierarchisch-staatliche Gesellschaften mit Befehlsstrukturen und einem in »Gesellschaftsgeld« und »Individualgeld« gedoppelten monetären Tauschmittel (nach Graeber). »Angleichend« meint den Kapitalismus im Sinne von Marx. Der »fragend-antwortende Diskurs« ist die kulturelle Bedingung der Möglichkeit für die projektiv skizzierte postkapitalistische Gesellschaft.
Obwohl der Verfasser den Terminus vermeidet, geht es in seinem Buch im grunde um ein Konzept von Kulturrevolution. Verstehen wir »Diskurse« als Kommunikationstypen bzw. Mentalitäten, dann betont Michael Jäger zu recht deren Materialität und kritisiert zu recht die Immaterialisierung der »Überbauten« im Basis-Überbau-Schema. Wie das am Beispiel der Tauschmittel und speziell der verschiedenen Geld-Formen empirisch begründet wird, ist einleuchtend. Mit dem an Lacan orientierten Diskurs-Begriff befinden wir uns aber bereits im Interdiskurs (was bei den religiösen Spielarten evident ist). Moderne Interdiskurse beruhen aber, wie u.a. Foucault gezeigt hat, auf Spezialdiskursen (also »wissenschaftlichen Diskursen«) - und dieser Igel ist auch bei Michael Jäger am Ziel bereits da. Denn wer legt die Proportionen fest, zwischen denen demokratisch gewählt wird? Wer formuliert die konkretisierenden Fragen im »fragend-antwortenden Diskurs«? Ein »ökonomischer Rat«, der offensichtlich aus wissenschaftlich-technischen Expertinnen bestehen soll. Denn ganz sicher ist selbst der »Fußabdruck« unter Expertinnen umstritten. Um also den ›richtigen‹ Fußabdruck demokratisch ›durchzukriegen‹ (ein repetitives Element des Buches ist »muss«), ist eine Kulturrevolution die Bedingung - und die ist nur begreiflich als Revolution des auf einem gegebenen Spektrum von Spezialdiskursen beruhenden normalistischen Interdiskurses mit seiner statistischen ›Kurvenlandschaft‹ (der »ökonomische Rat« arbeitet natürlich selbst mit einer ›alternativen‹ statistischen Kurvenlandschaft; Statistik ist nicht auf den »angleichende Diskurs« beschränkt; die Forderung nach »Unverborgenheit«, einem wohl leicht ironischen Heideggerismus statt Transparenz, ergibt sich in der Tat aus einer Teilblockade von Normalismus durch Kapitalismus).
Das sind ›modifizierende Fragen‹, die dieses höchst instruktive und anregende Buch allererst möglich macht. Wir begrüßen es als nachdenkenswerten Beitrag im pluralen Spektrum von operativen Modellen der kommenden Kulturrevolutionen. Von den vielen in einer Besprechung notwendigerweise übergangenen Ausführungen möchte ich abschließend aber eine m.E. besonders wichtige anfügen: Man liest hier viel Informatives über die Ökonomie des sogenannten Realsozialismus - das ist ein enormer Komplex von Wissen (gerade auch, was die Funktion von Geldformen, von Konkurrenz usw. betrifft), den unter der bloßen Bilanz »gescheitert« zu begraben höchst unwissenschaftlich ist. So postuliert der Autor für die postkapitalistische Gesellschaft als Geldform ausschließlich proportioniertes und begrenztes Kartengeld, zu dessen vorgängigen Erfahrungen u.a. auch die realsozialistische Planung zählt. (J.L.)
"Wie kann öffentlicher Raum so gestaltet werden, wie es die Menschen, die in ihm leben, auch wollen? Dieser und weiteren Fragen geht der Politikwissenschaftler und Journalist Michael Jäger in seinem Buch "Ökonomische Proportionswahlen" nach.
Dabei knüpft er an den auf Karl Marx zurückgehenden Ansatz an, dass die Akkumulation von Kapital mit dem Verbrauch von Ressourcen und der Zerstörung des ökologischen Systems einhergeht. Er unterscheidet - anders als Marx - zwischen Marktwirtschaft und Kapitalismus und begreift die Marktwirtschaft als Steuerungsinstrument für Wandel.
Diese Unterscheidung begründet Jäger in folgender Hypothese: Bedürfnis und Bedarf funktionieren "heute so, dass die Bedürfnisse in erheblichem Maß nicht befriedigt werden und die Menschen daher gezwungen sind, das Angebot an 'Ersatzbefriedigungen' anzunehmen; dieses besteht im sich steigernden, ökologisch so schädlichen konsumistischen Bedarf" (S. 60).
Im Umkehrschluss bedeutet das: Sind die Grundbedürfnisse - die er in die Kategorien Aufgabe, Kommunikation und Sicherheit unterteilt - gedeckt, benötigt der Mensch keine Flucht in den Konsumismus, eine Neugestaltung des politischen Systems ohne Ausbeutung ist möglich. Als fiktives Beispiel für ökonomische Proportionswahlen dient die Wahl des Verhältnisses zwischen öffentlichem Nahverkehr und motorisiertem Individualverkehr. Diese Wahl hätte auch zur Folge, dass das Konsumverhalten sowie sämtliche beteiligte Wirtschaftszweige an die Ergebnisse der Wahl angepasst werden müssten. Um diesen Ansatz zu realisieren, hat der Autor nichts weniger als eine Revolution im Sinn. Leider bleiben jedoch die konkreten Schritte hin zur propagierten Revolution meist vage und abstrakt, während die Folgen der ökonomischen Proportionswahl teils sehr detailreich und damit auch anregend ausgeführt werden.
Das Buch gibt spannende Denkanstöße, wenn es darum geht, die Güterverteilung innerhalb einer Gesellschaft neu zu denken und den utopischen Ausblick zu zeichnen, dass öffentliche Infrastruktur oder die Energieversorgung nicht vorrangig der Anhäufung von Kapital dienen, sondern den Menschen mehr als bislang zugutekommen: "In der neuen Gesellschaft wird statt des Angleichungsdiskurses der Antwortdiskurs dominant sein." (S. 177)
"Eine andere Wirtschaft ist möglich. Die Logik des Kapitals erzwingt ein Wachstum, das sich gegen die Lebensgrundlagen der Menschheit richtet. Wie kommen wir da wieder heraus? Michael Jäger schlägt vor, Wahlen auch in der Welt der Wirtschaft durchzuführen, und richtet den Blick auf eine Alternative.
Für sein jüngstes Buch hat der in Berlin lebende Politologe und Publizist Michael Jäger einen ziemlich sperrigen Titel gewählt: «Ökonomische Proportionswahlen.» Was damit gemeint sein könnte, erschliesst sich aus dem Untertitel: «Für eine Marktwirtschaft ohne Kapitallogik.» Einst lautete die Alternative: «Plan- oder Marktwirtschaft.» Nach dem Ende des «real-existierenden Sozialismus» schien die Frage entschieden zu sein: Marktwirtschaft und Kapitalismus gehören unverbrüchlich zusammen und ihre Verbindung stellt das Unterpfand für wachsenden Wohlstand dar. Gerade das wirtschaftliche Wachstum wird nun aber zum Problem, denn es stellt sich als eine die natürlichen Lebensgrundlagen gefährdende Belastung heraus.Was sind die treibenden Kräfte für dieses Wachstum? Die gängige Erklärung weist auf die sich ausweitenden Bedürfnisse der Menschen hin, die durch eine ständig vermehrte Erzeugung von Gütern und Dienstleistungen zu befriedigen seien. Bei einer solchen Begründung liegt es nahe, dass lediglich der «Verzicht» eine mögliche Antwort auf die ökologische Krise darstellen könnte. Aber wer mag schon verzichten?
Zwang zum Wachstum
Michael Jäger weist mit Karl Marx darauf hin, dass dies eine falsche Fragestellung ist: Der Zwang zum Wachstum gehört untrennbar zum kapitalistischen System. Dessen Sinn liegt nicht in erster Linie darin, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, sondern in der Produktion von Profit. Mit den Worten von Marx formuliert: «Das Kapital als solches setzt nur einen bestimmten Mehrwert, weil es den unendlichen nicht at once setzen kann; aber es ist die beständige Bewegung, mehr davon zu schaffen.» Dieser Zwang, ins Unendliche zu wachsen, treibt die Menschheit in einer endlichen Welt über die Grenzen der Tragfähigkeit des ökologischen Systems hinaus. Deshalb ist es wohl auch kein Zufall, dass «Schlüsselfiguren des Kapitals», wie Jäger schreibt, an Projekten zur Flucht vom heimischen Planeten führend beteiligt sind. So stehe jetzt die Gesellschaft vor der Wahl, «entweder die Erde zu retten und die Raumfahrt hintanzustellen oder die Kapitalisten gewähren zu lassen, die ihre Milliarden in ihren privaten Homo Deus-Wahn investieren».
Die Erde retten zu wollen, das heisst, eine Entscheidung zu treffen. Es geht darum, eine «neue Gesellschaft» zu schaffen, die sich, so Jäger, in einer «Urwahl» konstituiert, «indem sie mit sehr grosser Mehrheit beschliesst, den ihr zustehenden Umweltraum nicht zu überschreiten». Konkret bedeutet das «einen sehr viel geringeren Konsum; der ist nur zu erreichen, wenn die Notwendigkeit von ‹Ersatzbefriedigungen› reduziert wird; dazu müssen Lebensweisen denkbar werden, die glücklicher sind als die heutigen, weil sie auf solchen Ersatz nicht mehr angewiesen sind». Ein ambitioniertes Programm! Seine Verwirklichung würde voraussetzen, dass die Macht des Kapitals, die nicht zuletzt auf dem im Bewusstsein der Massen verankerten Konsumismus beruht, bereits deutlich infrage gestellt wäre.
Demokratie in der Ökonomie
Kommen wir zum Kern des Buches. Innerhalb des durch ökologische Notwendigkeiten vorgegebenen Rahmens entscheidet die Gesellschaft auf demokratische Weise, wie bestimmte Bedürfnisse am besten zu befriedigen sind. Zur Verdeutlichung des Gedankens verwendet Michael Jäger das Beispiel der Mobilität: An ihm lassen sich die unterschiedlichen Formen solcher Bedürfnisbefriedigung sehr gut zeigen. Genauer gesagt: Es geht um die Frage, in welchem Verhältnis motorisierter Individual- (MIV ) und Öffentlicher Verkehr (ÖV ) zueinanderstehen sollen. Zur Abstimmung stünden dann Programme, die sich durch verschieden gesetzte Proportionen zwischen MIV und ÖV unterscheiden würden. Die Stimmkraft der Bürgerin, des Bürgers in dieser ökonomischen Wahl würde von ihrer bzw. seiner Kaufkraft abhängen. Die Auswahl eines bestimmten Programms wäre dann auch leitend für die eigenen Konsumentscheide.
Das Ergebnis einer solchen Wahl wäre bindend für die Produzierenden. Das ist ein entscheidender Punkt: Das «Angebot» der Wirtschaft müsste sich nach den Entscheidungen der BürgerInnen richten, die beispielsweise darüber befinden, in welchem Verhältnis der Aufwand für MIV und ÖV stehen soll - etwa 50:50 oder 30:70. Dies würde einen Rahmen für die Produktion von Autos oder von Zügen, Strassenbahnen und Bussen setzen. Realisiert würden die Entscheidungen von einem Ökonomischen Rat, der eine Alternative zur zentralstaatlichen Planung des Realsozialismus wäre. Er bestünde aus AkteurInnen der ökonomischen Produktion und Dienstleistung. Eine wachsende Rolle sollten vergesellschaftete Unternehmen spielen, die von den in ihnen tätigen MitarbeiterInnen übernommen werden. Der Gedanke dazu stammt von Ota Šik, dem führenden Ökonomen des «Prager Frühlings» 1968.
Ein neuer Kommunismus
Das Buch von Michael Jäger ist auch als Auseinandersetzung mit dem traditionell marxistischen Verständnis von Revolution, Demokratie und Ökonomie zu verstehen. So geht er beispielsweise, anders als Marx, davon aus, dass eine Marktwirtschaft möglich sein muss, in der nicht mehr die Logik des Kapitals herrscht - der unendliche Prozess zur Schaffung von immer mehr Mehrwert. Diese Alternative zum Kapitalismus trägt für Jäger noch immer den Namen «Kommunismus», auch wenn dieser Name nach all den Dramen des Realsozialismus nicht mehr verwendbar erscheint. Der von ihm gemeinte Kommunismus müsste sich von der Konzeption Lenins unterscheiden, aus dessen Revolution «eine Art kommunistischer Zarismus» hervorgegangen sei, wie der Autor schreibt. Uns, so meint Michael Jäger, sei eine Revolution aufgegeben, die zur bereits bestehenden (und noch auszubauenden) politischen Freiheit «eine noch freiere ökonomische» hinzufügt. Sie wäre durch ein entscheidend anderes Freiheitsverständnis als das heute herrschende geprägt: Hier stünde die Befreiung von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen im Zentrum.