"Schriften zu Transformationen in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft" · volume 2
258 pp.
26.80 EUR
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ISBN 978-3-7316-1411-1
Können utopische Gesellschaftsentwürfe Orientierung für die Sozialpolitik geben? Der Band bejaht diese Frage. Beginnend mit einem Überblick über die vielfältigen Utopieformen und einer Auseinandersetzung mit der Kritik an utopischem Denken stehen verschiedene Realutopien im Zentrum des Bandes: Die Überlegungen unterschiedlicher Denker - von Eduard Heimann über Eric Olin Wright bis hin zu Jürgen Habermas und Harald Welzer - werden auf ihren utopischen Gehalt und ihren Charakter als Sozialgestalt im Sinne konsistenter Gesellschaftsentwürfe hin überprüft. Es werden Transformationswege für die Umsetzbarkeit der Utopien diskutiert und ihre Funktion für sozialpolitische Reformen erörtert. Dabei werden u.a. Gerechtigkeits-, Partizipations- und Nachhaltigkeitsfragen aufgeworfen sowie Bezüge zu aktuellen Protestbewegungen hergestellt. Der Band macht deutlich, dass Gesellschaftsutopien in einem relativen und realorientierten Verständnis wichtige Anregungen und Orientierungen für Reformen der Sozialpolitik bereithalten können. Utopien kommt gerade, aber nicht nur in Krisenzeiten ein erheblicher gesellschaftspolitischer Orientierungswert zu, der für die Transformation von Sozialpolitik impulsgebend sein kann.
Sozialpolitik gilt als mühselige, nicht immer leicht verständliche Arbeit am Detail. Der Zusammenhang zum "großen Ganzen", einem in sich schlüssigen und widerspruchsfreien Entwurf einer Gesellschaftsordnung scheint nicht immer gegeben. Da ist das Vorhaben von Gisela Kubon-Gilke und Remi Meier-Rigaud begrüßenswert: Die Orientierungsfunktion von Utopien für die konkrete Sozialpolitik herauszuarbeiten und die Verbindung der beiden Bereiche in ihren Wechselbeziehungen fruchtbar zu machen.
Um dem Ziel näherzukommen, wird die Analyse auf reale, prozessuale und relative Formen der Utopien begrenzt und, sehr originell und fruchtbar, mit dem Werkzeug der Gestalttheorie präpariert. Sozialpolitik wird generell als pfadabhängiges System wahrgenommen, das zu einer systemischen Transformation in der Regie des politischen Systems nicht mehr in der Lage ist. Die zentrale These des Buchs ist, dass Utopien Orientierungen für Reformen und Transformationen der Sozialpolitik bereithalten können, denn Utopien werden als "(noch) nicht oder nicht mehr existierendes Gesellschaftsmodell als Gesamtentwurf oder Teilentwürfe gesellschaftlicher Institutionen" verstanden. Dabei wird auf Martin Bubers Pfade in Utopia Bezug genommen, für den konstitutives Element jeder Utopie eine Negation ist. Bei der Beschreibung der Möglichkeiten von Realutopien greifen die Verfasser/in- nen erstaunlicherweise nicht auf Georg Pichts Prognose, Utopie, Planung zurück. Das Rad will eben zuweilen neu erfunden werden.
Kennzeichen, Funktionen und Probleme von (Real-)Utopien werden im Blick auf die Gestaltung von Sozialpolitik generell behandelt. Der Band konzentriert sich aber dann auf eine Reihe von Utopien, unter dem Blickwinkel der Gestalttheorie als Zugangsweg zu einer einigenden Sichtweise, die die verschiedenen Ansätze erst gemeinsam interpreterbar macht.
Christliche Sozialethik erscheint als Gesellschaftskritik, der es aber an einer eigenen konkreten Vision der Umgestaltung mangeln soll. Konzepte einer Bürgerversicherung, eines bedingungslosen Grundeinkommens und der negativen Einkommenssteuer sowie die Staatsfonds-Idee werden als Beispiele einer (utopischen?) Abkehr von einer nachholend alimentierenden Sozialpolitik verstanden, nachdem zuvor Erfolge und Misserfolge von Genossenschaften und der Arbeiterselbstverwaltung geschildert wurden. Schließlich werden die veränderten Optionen einer transformierten Sozialpolitik besprochen, die sich aufgrund aktueller Herausforderungen ergeben. Weitere Aspekte umfassen die Digitalisierung und die Notwendigkeiten einer nachhaltigen Entwicklung, deren kritische Positionen zum Wirtschaftswachstum einigermaßen detailliert entfaltet werden. Von der realisierbaren, aber vermutlich folgenlosen Green Economy über Postwachstums- bis zu Degrowth-Ansätzen werden die Positionen radikaler, aber nicht unbedingt realitätsferner. Die zum Ende eher verhalten beurteilte Gemeinwohlökonomie erscheint nicht unbedingt als Königsweg.
Kubon-Gilke und Maier-Rigaud haben ein kluges, lesenswertes Buch vorgelegt. Zuweilen erscheint es etwas zu voraussetzungsreich. Als Quintessenz lässt sich festhalten: Je problematischer die Veränderbarkeit der realen Sozialpolitik erscheint, desto mehr bedürfen Gesellschaften eines Zugangs, den Realutopien eröffnen. Eine solche Phase scheinen wir in diesen schwierigen Zeiten wieder einmal erreicht zu haben.
In ihrer umfangreichen Analyse bewerten Kubon-Gilke und Maier-Rigaud diverse Ansätze wie einen "demokratischen Sozialismus" (Heimann, Wright), einen "progressiven Kapitalismus" (Stiglitz), den herrschaftsfreien Diskurs (Habermas), die "reduktive Moderne" (Welzer), die christliche Sozialethik, die Genossenschaftsbewegung sowie Modelle der Wirtschaftsdemokratie mit neuen Eigentümerrechten (Varoufakis u. a.) oder Staatsbeteiligungen und Staatsfonds (Corneo, Atkinson). In der Reflexion des Übergangs vom "Kausal- zum Finalprinzip" (S. 155), also von der defizitorientierten hin zu einer präventiven Sozialpolitik, die "widerstandsfähige Lebensweisen fördert, ohne ins Paternalistische zu kippen" (S. 156), werden auch neue Ansätze wie eine Bürgerversicherung, ein bedingungsloses Grundeinkommen sowie die negative Einkommensteuer erörtert. Nach Einschätzung der Autorinnen und Autoren notwendige Ansätze, die von der Erwerbszentrierung der Sozialsysteme wegführen. Im Kontext von Nachhaltigkeit werden auch die Postwachstumsbewegung (exemplarisch Sommer/Welzer, Seidl/Zahrndt), der Konvivialismus (Manifest für eine "neue Kunst des Zusammenlebens", S. 211) sowie die Gemeinwohlökonomie (Felber, "trotz aller anregenden Gedanken (noch) keine Realutopie", S. 222) behandelt. Der Fokus - das ist eine der Stärken des Buches - liegt auf den möglichen Transformationswegen im Dreieck zwischen Wirtschaft, Staat und Zivilgesellschaft sowie der Balance zwischen Eigeninteresse und Gemeinwohl bzw. Reziprozität.
Gute Zusammenschau über Neuansätze
Kubon-Gilke und Maier-Rigaud geben eine gute Zusammenschau über unterschiedliche Neuansätze, sie halten sich mit eigenen Wertungen zurück, zitieren vielmehr Pro-Contra-Stimmen aus der wissenschaftlichen Literatur, überprüfen die Modelle jedoch an ihren Kriterien, der Wünschbarkeit, Gangbarkeit und Erreichbarkeit. Deutlich wird, dass geschlossene, revolutionäre Utopien weitgehend passé sind, schrittweise Umgestaltungen überwiegen, was diese von bisherigen Reformen lediglich durch die Tiefe der Eingriffe unterscheidet. Was wohl mit dem von Claus Offe zitierten Befund zusammenhängt, dass der Sozialstaat wohl ein Korrektiv zur typisch kapitalistischen Wirtschaftsstruktur sei, gleichzeitig aber auch von dessen Funktionieren abhänge: "Sozialstaat und Kapitalismus gingen sozusagen ein symbiotisches Verhältnis ein." (S. 154). Auffallend an den Befunden bleibt freilich, dass Politik als Gestalterin des Staates zwar erwähnt wird, die Rolle politischer Parteien oder auch der Gewerkschaften aber kaum benannt wird. Vielmehr gibt der Band einen exzellenten Einblick in die aktuellen sozialwissenschaftlichen Konzepte zur Umgestaltung der Sozialpolitik.