Aus der Einleitung:

Der Moralismus bestimmt zunehmend den öffentlichen Diskurs und das gesellschaftliche Klima. (...) Die Frage, um die es in diesem Beitrag gehen soll, ist bislang vernachlässigt worden: Was hat die philosophische Ethik damit zu tun? (...) Der Verfasser hat bereits 1993 einen Beitrag mit dem Titel „Wider die Erosion der Moral durch Moralisieren“ veröffentlicht. Dort wurden bedenkliche gesellschaftliche Folgen zwar angesprochen, aber eher als theoretische Möglichkeit, ohne dass schon die tiefen gesellschaftlichen Spaltungen zentral adressiert worden wären, die wir heute beobachten. Es scheint an der Zeit, nach fast 30 Jahren eine neuerliche und weiterführende Beschäftigung mit dem Moralismus und seinen gesellschaftlichen Folgen anzustrengen.

Dabei ist sogleich klarzustellen, dass hier keineswegs die Auffassung vertreten wird, die Ethik bzw. die praktische Philosophie rufe offen zu Intoleranz, Feindschaft oder gar zu Militanz auf. Argumentiert wird hier vielmehr entlang der Leitidee, dass in der Philosophie die globalen moralischen Probleme wie Armut, Diskriminierung, soziale Ungleichheit und Klimawandel mit Fragestellungen, Kategorien, Argumentationen und Lösungsvorschlägen angegangen werden, die die Weichen für ein Abgleiten in unversöhnliche Intoleranz stellen. Fokussiert auf Plädoyers für Freiheit, Autonomie, Menschenrechte, Solidarität, Klimaschutz und Gerechtigkeit hat die Philosophie die Gefahr eines solchen Abgleitens in spalterische Denk- und Verhaltensformen und in ein autoritäres Gesellschafts- und Politikverständnis bis hin zu Militanz und Ablehnung von Rechtsstaat und Demokratie wohl weitgehend übersehen.

Um diese Hypothese zu plausibilisieren, werden (1) die wichtigsten Momente und (2) verschiedene Ausprägungen von Moralismus idealtypisch umrissen. Dann werden (3) die Attraktivität des Moralismus sowie (4) die gesellschaftlichen Folgen analysiert, bevor (5) die Weichenstellung der philosophischen Ethik für das Abgleiten in Moralismus aufgezeigt wird. Schließlich (6) soll der Kern eines alternativen Paradigmas für die Philosophie entlang der These skizziert werden, dass sich gesellschaftliche Probleme, die immer Kollektivprobleme sind, handlungstheoretisch weder fruchtbar analysieren noch einer Lösung näherbringen lassen. Abschließend (7) wird kursorisch auf bedeutende, traditionsbildende Vertreter dieses alternativen Paradigmas hingewiesen.