325 pp.
34.80 EUR
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ISBN 978-3-7316-1220-9
... Wolter betritt damit insofern Neuland, als sich die Neoliberalismusforschung, in die er sich einordnet, bisher meist damit begnügt, die Ideen neoliberaler Großtheoretiker und/oder die Aktivitäten neoliberaler Netzwerke und Think Tanks zu verfolgen. Verbindungen in die Medienwelt wird dabei nur selten nachgegangen, obwohl doch Wolters Vermutung naheliegt, dass gerade Journalisten "das Meinungsklima wesentlich beeinflussen" (S. 8).
Wolters Methode ist die sozialwissenschaftliche Inhaltsanalyse, bei der er "Zeitungs- oder Magazintexte nach bestimmten, im Voraus feststehenden Aussagetypen und Werturteilen" durchforstet (S. 31). Die dafür benötigten einheitlichen Kriterien gewinnt er aus einem trotz (oder gerade wegen?) einer lückenhaften Literaturerschließung durchaus treffsicheren Abriss der neoliberalen Theoriegeschichte. Der daraus abgeleitete, aus 21 "Kernaussagen" bestehende "neoliberale Katechismus" wird dann zunächst in einer Querschnittstudie auf die Berichterstattung der "Leitmedien" Stern, Spiegel, Frankfurter Rundschau, Bild, Zeit, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Welt zum Lambsdorff-Papier und zur Agenda-Rede angewandt. Wie sich zeigt, bediente sich nicht nur die FAZ, die schon seit ihrer Gründung als neoliberale Kaderschmiede fungiert hatte, durchgehend neoliberaler Argumentationsmuster, sondern etwa auch die Zeit und die SZ, wo bereits zu Beginn der 1980er-Jahre neoliberale Wirtschaftsjournalisten arbeiteten. Als konsistent neoliberalismuskritisch erweisen sich 1982 nur Frankfurter Rundschau, Spiegel und Stern. Die beiden letzteren bedienten sich dann 2003 konsequent neoliberaler Rhetorik.
Das Kernstück der Arbeit bildet eine Längsschnittanalyse der wirtschaftspolitischen Berichterstattung des Spiegel zwischen 1983 und 2002. Dabei stellt Wolter eine interessante, allmähliche Verschiebung hin zu neoliberalen Vorstellungen fest, die zunächst vor allem bei Gemeinsamkeiten links- und neoliberaler Kritik ansetzten: bei der Staatskritik vor allem, in der der Spiegel schon lange geübt war, aber auch beim Misstrauen gegenüber mächtigen Interessengruppen wie der Agrarlobby sowie gegenüber Politikern und "Bürokraten". Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks kam eine vernichtende, häufig hämische Analyse der Dysfunktionalitäten sozialistischer Planwirtschaft hinzu, die Wolter zwar zu grundsätzlich dem Neoliberalismus zurechnet (vgl. S. 42, 186, 199f., 212-215), die aber in der Tat wesentlich zur Untermauerung neoliberaler Argumente beitrug. Als mit dem Keynesianismus und dem realen Sozialismus die Alternativen abhandengekommen waren, stieß seit den 1990er-Jahren eine neue Generation von Wirtschaftsjournalisten (etwa Michael Sauga, Gabor Steingart, Christian Reiermann, Ulrich Schäfer) in die ideologische Lücke und unterstützte entschieden neoliberale Lösungen (S. 286-290, 307).
Als wichtig erwiesen sich in diesem Prozess auch die Krisendiskurse um die vom Spiegel als "Zwangsschicksal", das "man nicht abwählen kann", begriffene Globalisierung und die damit in Verbindung gebrachte Massenarbeitslosigkeit. Hier stößt Wolters spezielles Verständnis der "innere[n] Logik des Wandels medial vermittelter Sinnwelten" (S. 302) an seine Grenzen. Denn er fragt hauptsächlich danach, welche Argumente der ursprünglichen neoliberalen Großtheoretiker für "linke" (ein Begriff, der leider nicht definiert wird) Journalisten anschlussfähig gewesen seien. Damit kommt er zwar spannenden ideologischen Verbindungslinien auf die Spur und kann zurecht darauf hinweisen, dass sich neoliberale Argumente gut auch gegen Konservative ins Feld führen ließen (vgl. insbesondere S. 260f.). Er begreift so aber "den" Neoliberalismus als ein sich historisch selbst kaum wandelndes, "seit Jahrzehnten im Kern unveränderte[s]" (S. 17) Programm.
Mit dieser Konzeption hängt auch Wolters Übernahme (vgl. S. 175, 284) von Friedrich Hayeks Top-Down-Medientheorie zusammen, die in Journalisten nur "secondhand dealers in ideas" zu erkennen vermag, die die ihnen von "original thinkers" wie Hayek selbst vorgesetzten Ideen in vereinfachter Form wiederkäuen und an die ihnen hörige breite Masse weitergeben. So aber unterbleiben systematische Reflexionen der spezifischen Funktionsweise von Zeitungen und Nachrichtenmagazinen als Medien und des Journalismus als Handlungsfeld. Konkret ließe sich argumentieren, dass die hier beobachteten Journalisten eben nicht, wie Hayek es sich erhoffte und wie Wolter implizit annimmt, von der Lektüre abstrakt-philosophischer Traktate oder der professoralen Lehre an den Universitäten für den Neoliberalismus eingenommen wurden, sondern vor allem auf die von ihnen und ihren Kollegen im journalistischen Tagesgeschäft konstruierten Phänomene reagierten. Das Bild des deutschen Wohlfahrtsstaats als "verkrustet" und "überreguliert" etwa mag weniger mit neoliberalen Theorien zusammenhängen als mit der journalistisch durchaus notwendigen Gewohnheit, abstrakte Formationen in bildhaften Metaphern darzustellen, die sich dann durch ständige Wiederholung schnell zu Klischees verdichten (die "verstaubte" Bürokratie, der arbeitslose "Drückeberger", "mutige" Reformer gegen "Bedenkenträger" in Parteien und Verbänden). Welche metaphorischen Klischees jeweils journalistisch wirkmächtig werden, hängt stark mit oft kurzfristigen Klimaschwankungen innerhalb des journalistischen und politischen Feldes zusammen. Um diese mitbeobachten zu können, wäre mehr Kontextualisierung notwendig gewesen - Wolters Analyse der ideologischen Entwicklung des Spiegel wirkt gerade aus detailverwöhnter historischer Warte etwas blutleer. Für Abhilfe hätte eine Berücksichtigung weiterer Quellen und Literatur etwa zum Globalisierungs- oder zum ökonomischen Wiedervereinigungsdiskurs der 1990er-Jahre sorgen können, oder auch ein tieferer Blick in die bei Wolter weitgehend als Black Boxes erscheinenden Redaktionen. Auch die an keiner Stelle explizit reflektierte oder gerechtfertigte Verengung auf westdeutsche Medien hätte durch Verweise auf ähnliche oder gerade unterschiedliche Fälle in anderen Ländern geöffnet werden sollen. Trotz dieser Einwände bleibt es erfreulich, dass sich die Neoliberalismusforschung endlich auch der medialen Dimension ihres Gegenstands zuzuwenden beginnt. Hierzu leistet Wolter einen wertvollen Beitrag, indem er nicht nur für ideologische Kontinuitäten und Verbindungen sensibilisiert, sondern auch den häufig gerade bei Neoliberalismushistorikern anzutreffenden "internalistischen" Blick zu erweitern vermag. Die Diskussion um eine Mediengeschichte des Neoliberalismus ist eröffnet.
Im Unwort von der "Alternativlosigkeit" steckt ein wahrer Kern. Zwar kann natürlich keine politische Frage nur auf eine einzige Weise beantwortet werden. Doch wenn alternative Sichtweisen im öffentlichen - und das heißt vor allem: im medialen - Diskurs nicht mehr vorkommen, dann ist es tatsächlich so, als gäbe es sie gar nicht. In Deutschland wird das besonders deutlich am Siegeszug des Neoliberalismus. Philipp Wolter, Redakteur von Böckler Impuls, zeigt in seiner anregend zu lesenden Dissertation, wie sich neoliberale Deutungsmuster in der bundesdeutschen Presse seit den 1980er Jahren immer mehr durchsetzten - und heute kaum noch hinterfragt werden.
Der Sozialwissenschaftler verglich die Kommentierung zweier wirtschaftspolitischer Grundsatzprogramme durch die führenden Printmedien: das "Lambsdorff-Papier", das 1982 zum Bruch der sozialliberalen Koalition führte, und die Regierungserklärung zur "Agenda 2010" von Gerhard Schröder aus dem Jahr 2003. Inhaltlich speisten sich beide aus dem, was Wolter den "neoliberalen Katechismus" nennt. Doch während sich 1982 Lob und Kritik in den Medien noch die Waage hielten, fiel das Echo zwei Jahrzehnte fast durchweg positiv aus. Ideen, die einst als altbacken geschmäht worden waren, wie Sparpolitik, Eigenverantwortung und der Umbau der Sozialsysteme, galten jetzt als frisch und modern. Auch der "Spiegel" als wichtigstes Leitmedium wechselte die Fronten. Aber nicht adhoc, sondern, wie Wolter detailliert analysiert, in einem fließenden Übergang. So sei etwa der Weg nicht weit gewesen von der bereits früher geübten, eher linken Staatskritik zur neoliberalen Forderung nach einem schwachen Staat.
Die Suche nach den Gründen für diese Entwicklung gestaltet sich schwieriger. Wie sich politischer, wissenschaftlicher und medialer Diskurs gegenseitig überlagern und beeinflussen, wo also in diesem Fall Henne und Ei zu suchen sind: Das kann (und will) Wolter nicht beantworten, auch wenn er einige interessante Überlegungen zum Generationswechsel in den Redaktionen und wirtschaftswissenschaftlichen Instituten anstellt. Nur eines schließt er aus: Dass eine objektive Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage zum Umdenken gezwungen habe, lasse sich mit den einschlägigen ökonomischen Kennzahlen nicht belegen.