Aus der Einleitung des Beitrags:

Das Verhältnis zwischen Familie und Sozialstaat ist außerordentlich spannungsreich. Zum einen wird seit längerem konstatiert, dass die Familie im Zuge des Individualisierungsprozesses moderner Gesellschaften und der Übernahme sozialer Sicherungsfunktionen durch den Staat einen nachhaltigen Funktionsverlust erlitten hätte. Die Ausdifferenzierung familialer Lebensformen wird als Krisenphänomen, gar als „Zerfall“ der Familie interpretiert, die eine auch nur partielle Absicherung existenzieller Risiken durch familiäre Institutionen grundsätzlich in Frage stellt. Auf der anderen Seite wird zunehmend deutlich, dass der Sozialstaat in seiner Funktionsfähigkeit elementar auf die Familie als Leistungsträger angewiesen ist. Das System sozialer Sicherung ist sowohl einnahmen- wie ausgabenseitig darauf angewiesen, dass die Familie ihre Leistungen im Bereich der Reproduktion sowie der Pflege und Betreuung von Familienmitgliedern erfüllt. Die nachlassende Geburtenhäufigkeit und ein verringertes Angebot an innerfamilialen Solidarleistungen zeigen mittlerweile überdeutlich, dass der Sozialstaat schnell an seine Grenzen stößt, wenn die notwendigen Vorleistungen von den Familien nicht mehr erbracht werden. Und so ist es wohl kein Zufall, dass im Zuge der neueren Diskussion um Kommunitarismus und „dritte Wege“ der Sozialpolitik die Familie wieder als Funktionsträger „entdeckt“ und die Verdrängung familialer (voluntaristischer) durch sozialstaatliche (funktionale) Solidarität kritisch thematisiert wird (Opielka 2004, S. 138). Schließlich greift der Sozialstaat im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips nach wie vor auf Unterhaltsleistungen der Familie zurück, bevor er selbst Fürsorgeleistungen vergibt. ... Betrachtet man die Reformen des Systems sozialer Sicherung in Bezug auf die Inanspruchnahme familialer Stützsysteme der letzten zwei Jahrzehnte, so ergibt sich ein durchaus ambivalentes Bild. So werden familiale Stützsysteme bspw. durch die Anerkennung von Erziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung und durch die Vergabe von Geldleistungen durch die gesetzliche Pflegeversicherung explizit gestärkt und die sozialpolitischen Leistungen der Familie anerkannt. Auf der anderen Seite wurden bislang familial vorgenommene Unterhaltsverpflichtungen durch den Staat übernommen, so z. B. im Zuge der Einführung der sozialen Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zum 1. Januar 2003, die zum 1. Januar 2005 in das Sozialgesetzbuch XII (Sozialhilfe) integriert wurde. Und schließlich war es das erklärte Ziel des Gesetzgebers, im Zuge der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe in das Sozialgesetzbuch II (Grundsicherung für Arbeitssuchende) das Subsidiaritätsprinzip stärker als bisher zur Anwendung zu bringen und in verstärktem Umfang auf innerfamiliale Unterstützungsleistungen zurückzugreifen.

Ziel dieses Beitrags ist es, diese ambivalente Beziehung zwischen familialen Stützsystemen einerseits und sozialstaatlichen Sicherungsinstitutionen andererseits zu analysieren. Er ist wie folgt aufgebaut: Zunächst werden einige der zentralen Entwicklungslinien nachgezeichnet, die im familiensoziologischen Diskurs unter den Stichworten der „Individualisierung“ und „Pluralisierung“ familialer Lebensformen thematisiert werden. Anschließend werden im dritten Kapitel die komparativen Vor- und Nachteile der familiären gegenüber einer kollektiven Absicherung sozialer Risiken diskutiert, bevor im Anschluss daran im vierten Kapitel der Diskurs um die Notwendigkeit einer familienorientierten Ausgestaltung des Systems sozialer Sicherung aufgegriffen wird. Das fünfte Kapitel fasst die zentralen Ergebnisse nochmals zusammen.